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Knacknuss der Demokratie: Wie finden Digital Natives ins Wahllokal?

Zwei Mittelschülerinnen lesen etwas ab ihrem Laptop
In der Demokratie sollen möglichst viele Schülerinnen und Schüler zu Erstwählerinnen und -wähler werden, sagt Forscher Jakob Ohme. Politische Bildung und persönliche Netzwerke sind Schlüsselfaktoren. © Keystone / Gaetan Bally

In der Schweiz nimmt nur ein Drittel der Jungen in an Abstimmungen und Wahlen teil, die anderen sind entweder nicht interessiert oder "politische Analphabeten". In anderen Demokratien ist dieses Verhältnis bestenfalls umgekehrt. Jakob Ohme von der Universität Amsterdam untersucht, was man dagegen tun kann.

Die magische Formel, damit möglichst viele Junge sich aktiv am politischen Leben beteiligen, hat auch Jakob OhmeExterner Link nicht gefunden. Der junge Deutsche absolviert in Holland am Zentrum für Politik und Kommunikation der Universität Amsterdam ein Postdoktorat.

Aber der junge Forscher weiss aufgrund eigener UntersuchungenExterner Link, was funktioniert und was nicht. swissinfo.ch hat mit ihm im Rahmen der easyvoteExterner Link-Jahrestagung 2021 (siehe Box), an der er online als Referent auftrat, gesprochen.

swissinfo.ch: «Wie finden die Digital Natives an die Urne», lautete das Thema der Tagung. In der Schweiz nehmen nur gut 30% der bis 25-Jährigen an Abstimmungen teil. Bei den Wahlen ist der Wert kaum höher. Was sagen Sie zu dieser Partizipation?

Porträtbild von Kommunikationsforscher Jakob Ohme
Jakob Ohme forscht am Zentrum für Politik und Kommunikation der holländischen Universität Amsterdam. Es ist dies das grösste Forschungsinstitut in Europa in diesem Bereich. zVg/Jan Gutzeit

Jakob Ohme: Einerseits ist es nicht überraschend, weil wir wissen, dass die Beteiligung der Gruppe der jüngsten Wähler niedriger ist. Andererseits ist das aber schon problematisch: Die jungen Menschen bestimmen immer auch über ihre Zukunft und müssen diese sogar länger durchleben als ältere Wählergruppen.

Sind diese 30% im internationalen Vergleich viel oder wenig?

Was die Abstimmungen betrifft, ist die Schweiz mit ihren vier nationalen Urnengängen pro Jahr etwas Besonderes. Aber für nationale Wahlen sind 30% schon besorgniserregend wenig. Das bedeutet, dass 70% der Jungen nicht teilnehmen. Und das ist zu viel, um ein gesamtes Meinungsspektrum abzudecken.

In den Niederlanden, Deutschland und Dänemark liegt die Teilnahmen der jüngeren Altersgruppen an den Wahlen meist zwischen 50% und 60%. In den USA ist der Wert tiefer, weil es dort wesentlich schwerer ist, Junge zu mobilisieren.

2020 ist das Interesse von jungen Menschen in der Schweiz an der Politik weiter gestiegen, wie der neue Politikmonitor ausweist. Starke Treiber waren die Coronakrise und die US-Präsidentenwahlen, so Cloé Jans vom Forschungsinstitut gfs.bern, das den jährlichen Politikmonitor im Auftrag von easyvote.ch erstellt. Die unabhängige Organisation setzt sich für die Förderung der politischen Partizipation der Jungen von 15 bis 25 Jahren und der politischen Bildung ein.

Damit setzt sich der Trend des steigenden Interesses junger Menschen in der Schweiz an der Politik, der seit 2017 besteht, fort.

Das zugkräftigste Thema war 2020 Rassismus und Diskriminierung (58%). Dahinter folgen internationale Politik, Klimawandel und Gleichberechtigung von Mann und Frau.

2019 hatte noch klar die Klimafrage dominiert.

Bei den Ereignissen, welche die Jungen 2020 am meisten politisierten, dominierte die Bewegung Black Lives Matter, gefolgt von der Corona-Pandemie, der Präsidentschaft Trumps und der Klimastreik-Bewegung/»Fridays for Future».

Beim Vertrauen in die politischen Akteure und Institutionen hat sich der Trend zur Abnahme fortgesetzt. Am grössten ist der Vertrauensverlust mit 56% der Äusserungen gegenüber den Medien.

Sie haben in Ihrem Referat für eine starke politische Bildung an Schulen plädiert, damit junge Menschen ein «politisches Self» entwickeln können. Also die möglichst frühe Adressierung einer möglichst grossen Gruppe. Weshalb?

Die aktuelle Politik ist für die jungen Leute am relevantesten, weil sie am längsten mit deren Ergebnissen leben müssen. Gleichzeitig wissen wir, dass in der Entwicklung junger Menschen frühe Ereignisse sehr aussagekräftig und prägend sind.

Für die politische Partizipation heisst das: Wenn ich Menschen früh an die Wahlurne bringe, kann ich mir relativ sicher sein, dass ein Grossteil auch später wählen wird. Frühe Erfahrungen sind also sehr wichtig, um das politische Selbst zu entwickeln.

An der easyvote-Tagung 2019 war die so genannte Liquid Democracy Thema – ein spannendes Konzept einer niederschwellige Demokratie, bei der alle mitmachen können, auch ganz Junge:

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Sie waren 2017 in Dänemark an einem Feldversuch mit Schülerinnen und Schülern beteiligt mit genau dem Ziel, bei den Wahlen möglichst viele zu ihrer ersten Teilnahme zu motivieren. Dabei wurde die Partizipation der Erstwählenden aber nur in bescheidenem Umfang gesteigert – von 59,5% bei den Wahlen 2013 auf 62,5%.

Man muss fairerweise dazu sagen, dass die drei Prozent auch nicht sicher auf die Kampagne zurückführen waren. Immerhin war aber der Wert höher als im Rest des Landes.

Gut gemeinte Ideen und Kampagnen und Ideen richten sich oft an jene, die bereits politisch interessiert sind und die ein bestimmtes Thema spannend finden.

Umgekehrt heisst dies, dass es ein Problem gibt, jene Menschen zu erreichen, die nicht wählen gehen. Da sind nicht nur die Jungen gemeint. Ihnen sollten wir in der Forschung, aber auch die Strateginnen und Strategen der Parteien, viel mehr Aufmerksamkeit schenken.

Was ist mit jenem Drittel der «Unerreichten»?

In der von uns evaluierten Kampagne in Dänemark haben wir die Anzahl der Schulstunden für politische Bildung erhöht und auch Live-Events mit Kandidierenden und Medienleuten angeboten. Ein Drittel der potenziellen Erstwählenden haben wir aber nicht erreicht bzw. überzeugt. Obwohl wir sehr stark auf soziale Medien setzten.

Hier kommt ein zentraler Faktor ins Spiel: das persönliche Netzwerk. Wenn meine Familie und mein Freundeskreis unpolitisch sind und noch nie jemand von ihnen gewählt hat, spreche ich auch mit niemandem über Wahlen.

Es reicht eben nicht, politische Informationen über einen Newsfeed in den sozialen Medien auszuspielen. Denn es gibt Gruppen, die trotz der digitalen Kanäle räumlich immer noch relativ abgeschlossen sind: bestimmte Stadtviertel oder Dörfer, wo die Wahlbeteiligung wirklich niedrig ist.

Dann heisst es eben da reingehen und gucken. Nur mit sehr hohem Aufwand kann man wirklich versuchen, dort Menschen zur Teilnahme zu motivieren.

Auch Ihr Versuch in Dänemark hat gezeigt: Die magische Formel für die politische Partizipation der Digital Natives gibt es nicht. Dennoch haben sich Faktoren herauskristallisiert, damit Junge auf den Zug der Politik aufspringen. Was sind die drei, vier wichtigsten Punkte?

Die Themen müssen richtig gesetzt sein. Der Politikmonitor von gfs.bern zeigt ja schön, welche Themen relevant sind und welche nicht.

Dann: Nicht jeder Inhalt, der jugendlich daherkommt, kommt automatisch bei den Jungen an. Ist etwas humoristisch oder vielleicht sogar etwas zynisch, sagen sich nicht alle automatisch «ok, ich geh jetzt wirklich wählen».

Man muss sich also genaue Gedanken zu einer Message machen, ebenso zum Kanal, über den sie ausgespielt wird. Unterschiedliche Plattformen funktionieren unterschiedlich – Tiktok oder Snapchat funktionieren völlig anders als Facebook. Deswegen müssen Informationen auch daran angepasst werden.

swissinfo.ch: An der Tagung hat der Kampagnenleiter einer Partei gesagt, dass er Wahlen und Abstimmungen gewinnen will, statt möglichst viele Junge zur Urne zu bringen. Haben Sie dafür Verständnis?

Jakob Ohme: Ja, denn Ziel einer Kampagne ist das Einfahren politischer Gewinne – das ist Teil des politischen Geschäfts.

Aber ich finde das schon auch ein bisschen schade. Vielmehr würde ich mir wünschen, dass in grossen politischen Kampagnen, die über die nötigen finanziellen Mittel verfügen, es auch ein Ziel wäre, Erstwählerinnen und -wähler zu gewinnen. Auf lange Sicht ist es sinnvoll, die Jüngsten an eine Partei oder an eine Sache zu binden. Und gleichzeitig gewinnt damit auch die Demokratie.

Wieso sind Ihnen jene, die nicht bereits politisch informiert und aktiviert sind, so wichtig?

Letztlich muss ich mir immer die Frage stellen: Wie komme ich an die Menschen heran, die ich wirklich erreichen will – also die, die bisher noch unentschieden sind oder die zu einem Thema noch zu wenig wissen. Dort kann eine Kampagne die grösste Wirkung erzielen.

Die Wahlbeteiligung kann ich nur erhöhen, wenn ich mit meiner Kampagne jene erreiche, die bisher nicht wählten. Die entscheidenden Fragen lauten also: Wen will ich erreichen? Mit welcher Nachricht? Über welchen Kanal? Und welche Wirkung will ich erzielen?

Wirkt das Stimmrechtsalter 16, also die Inklusion der 16- und 17-Jährigen, als Aktivierung? Österreich kennt es, oder auch Brasilien. In der Schweiz gilt national das Stimmrechtsalter 18.

In regionalen oder kommunalen Wahlen gibt es dieses Wahlrecht ab 16 öfter. Ich finde das eine gute Sache, dass man junge Leute an die Politik heranführt: Zuerst ist es eben die Bürgermeisterwahl, dann die Bundestagswahl. Man kann nicht früh genug anfangen, junge Leute politisch zu sensibilisieren.

Auch sind die jungen Menschen heute erwachsener, wenn wir mit Gleichaltrigen in den 1950er- oder 1980er-Jahren vergleichen: Sie sind früher informiert und früher in gesellschaftliche Prozesse eingebunden.

Mittlerweile bin ich auch für Wahlrecht ab 16 auf nationaler Ebene, denn diese Inklusion würde die Demokratie stärken.

Sowohl Cloé Jans vom Politikmonitor als auch Sie betonten die herausragende Bedeutung der politischen Bildung als Grundlage für politisches Verständnis und Teilhabe. Doch genau hier haben die Schweiz und andere Demokratien erhebliche Defizite. Haben Sie eine Erklärung dafür?

Es gibt viele Strömungen und Forderungen, dies oder jenes in den Lehrplan aufzunehmen. Letztendlich ist es eine Frage von Ressourcenknappheit. Dies betrifft auch fähiges Lehrpersonal, aber nicht nur. Ich glaube, die Lehrkräfte leisten heute schon viel und müssen vieles vermitteln.

Aber wir müssen die politische Bildung neu denken. Wir müssen die Frage nach dem gesellschaftlichen Nutzen stellen. Wo ist er grösser: Wenn ich junge Menschen auf das politische System vorbereite, indem sie die nächsten 80 Jahre funktionieren werden oder wenn sie chemische Formel auswendig lernen und Goethe lesen?

Wir brauchen eine neue Balance, denn wir sehen, was passiert, wenn es mit der politischen Bildung schiefläuft. Heute müssen wir ganz viel über «Media Literacy» reden, also darüber, wie gut Menschen das Mediensystem verstehen.

Ein grosser Teil der Probleme mit Fake News, Verschwörungstheorien, Querdenkern usw. hängt mit wachsenden Zweifeln am klassischen Mediensystem zusammen. Nur: Als Erwachsener kann ich diese zusätzlichen Kenntnisse und Kompetenzen in der Mediennutzung nur noch schwer erwerben.

«Das Kind ist in den Brunnen gefallen und damit müssen wir uns jetzt auseinandersetzen.» Aber für die Gesellschaft ist es besser, wenn das Kind gar nicht erst in den Brunnen fällt.

Das Projekt des Dachverbands Schweizer Jugendparlamente fördere das Interesse der 18- bis 25-Jährigen an der Politik, begründet die Jury ihren Entscheid.

Der mit 10’000 Franken dotierte Preis wurde am Freitag an der nationalen Föderalismuskonferenz in Basel übergeben, wie die «ch Stiftung für eidgenössische Zusammenarbeit» mitteilte.

Für den Föderalismuspreis 2021 waren rund fünfzig Bewerbungen eingegangen. Deren acht schafften es in den Final. Die «ch Stiftung für eidgenössische Zusammenarbeit» wird von allen 26 Kantonen getragen.

(Quelle: SDA)

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