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Putin-Gegner Michail Chodorkowski plant Machtwechsel im Kreml

Portrait
Michail Chodorkowski plant mit einer Gruppe ein Russland nach Putin - der Föderalismus nach Schweizer Vorbild ist für ihn das präferierte Modell. Keystone / Markus Schreiber

Michail Chodorkowski kämpft mit anderen prominenten Russen gegen Wladimir Putin. Er sieht vor allem eine Möglichkeit, wie man dem russischen Kriegstreiber das Handwerk legen könnte: mit dem Abwerben von Fachkräften. In der Schweiz sieht er ein Modell für das zukünftige Russland.

Michail Chodorkowski (59) ist Putins grösster russischer Gegner. Der ehemals reichste Russe, der zehn Jahre im Arbeitslager verbringen musste und anschliessend in der Schweiz wohnte, plant im Exil den Aufbau eines neuen Staats für die Zeit nach Putin.

Er ist nicht nur Gründer von “Open Russia”, sondern auch des Anti-War Committee, in dem er mit bekannten Personen wie dem Schachweltmeister Garri Kasparow (59), dem ehemaligen Ministerpräsidenten Michail Kassjanow (65) und dem Historiker Wladimir Kara Mursa (41) gegen die Eliten im Kreml kämpft. Schachgenie Kasparow bezeichnet Chodorkowski als Mann der Stunde für die Zeit nach Putin.

“Blick” hat Chodorkowski an seinem Wohn- und Arbeitsort London zum Interview getroffen, das wir hier mit Einverständnis der Schweizer Zeitung ungekürzt wiedergeben. Er verrät im Gespräch, wie der Krieg beendet werden kann, wie ein neues Russland ohne Putin aussehen soll und warum er so schnell wieder die Schweiz verlassen hat.

Blick: Der ungarische Präsident Viktor Orban hat vergangene Woche gesagt, dass der Krieg schnell beendet werden könne, wenn die Ukraine aufgebe. Sehen Sie das auch so?

Michail Chodorkowski: Es liegt an der Ukraine zu entscheiden, ob sie aufgeben will oder nicht, und ob sie weiterhin Menschenleben opfern will, um ihr Territorium zu verteidigen. Aber als erfahrener Politiker sollte Orban wissen, dass ein Ende des Kriegs nur möglich ist, wenn Putin geht.

Wie kann die Ukraine den Krieg gewinnen?

Es gibt drei Möglichkeiten, wie sich der Krieg entwickeln wird. Die erste: Das russische Regime kollabiert, etwa weil Putin an einem Herzinfarkt stirbt. Die zweite: Der Krieg geht mit grossen Verlusten über Jahre weiter, wobei nicht vorhersehbar ist, wie er ausgeht.

Die dritte: Der Westen rüstet die Ukraine mit jenen Mitteln aus, die sie braucht, um den Krieg schnell zu beenden. Es muss sich um eine Art Hilfe handeln, bei der Putin weiss, dass er verlieren wird.

Mit Sanktionen will der Westen Putin zum Aufgeben zwingen. Wie sehr schaden sie Russland wirklich?

Langfristig wirken sie mit Sicherheit. Aber die Hauptquelle des Konflikts ist das Potenzial der Fachkräfte. Die westlichen Staaten müssten zum Beispiel russische Ingenieure anwerben und ihnen die Niederlassung sehr einfach machen.

Der Verlust solcher Leute ist für Putin viel schmerzhafter als die Wirtschaftssanktionen. Zudem könnte der Westen von solchen Profis profitieren, da ja trotz Rezession Fachkräftemangel herrscht.

In diesen Tagen hiess es in den Medien, dass Russland Gold verkaufen wolle, um an Geld zu kommen. Wann ist Russland pleite?

Die russischen Goldreserven reichen noch drei Jahre. Mindestens.

Putin zieht offenbar Hunderttausende Soldaten zusammen, um in den kommenden Wochen eine neue Grossoffensive zu starten. Wie weit werden die Russen mit diesem Angriff kommen?

Es ist offensichtlich, dass Putin einen solchen Angriff plant. Allerdings wird Putin seine Entscheidungen erst im letzten Moment treffen. Es wird auf die Kräfte ankommen, die ihm dann zur Verfügung stehen werden. Sie werden in Zusammenhang stehen mit den Raketen, welche die Ukraine bekommt und damit, wer die Luftherrschaft haben wird.

Uno-Generalsekretär António Guterres warnt davor, dass Putin nun einen Atomkrieg anzetteln könnte. Wie weit wird er tatsächlich gehen?

Churchill sagte, dass die Gefahr eines Atomkriegs für immer eliminiert werden sollte. Denn solange die Atombombe ein Argument bleiben kann, würde sie in einem Streit schnell zum einzigen Argument werden. Wer kann Putin in seiner suizidalen Absicht stoppen?

Ein Atomkrieg wäre sinnlos. Es käme zu einer Antwort der USA, die nur schon mit konventionellen Waffen Putins Truppen auslöschen könnten. Auch die Familien der Kreml-Eliten würden ausgelöscht. Das wissen alle.

Sie planen, zusammen mit anderen bekannten Putin-Gegnern, ein neues Russland aufzubauen. Wie soll Ihr Land aussehen, wenn Putin einmal weg sein wird?

Es gibt zwei Wege. Der eine ist das jugoslawische Modell, bei dem Russland in mehrere Staaten aufgeteilt würde. Das wäre sehr gefährlich und könnte zu nuklearen Konflikten und zu neuen Diktaturen führen.

Ich befürworte den Weg des kompletten Neuaufbaus und die Entwicklung zu einem parlamentarischen und föderalistischen Modell – ähnlich wie die Schweiz. Für dieses Modell gibt es in den Städten viel Support.

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Wann wird das so weit sein?

Das dauert mindestens zwanzig Jahre. Russland befindet sich in der Entwicklung zurzeit da, wo Deutschland kurz nach Ende des Zweiten Weltkrieges gestanden hat.

Wie gehen Sie vor?

Wir müssen die russische Gesellschaft von unserem Modell überzeugen. Dazu brauchen wir die Medien. Die Eliten sollen wissen, dass es für sie einen Ausstieg aus ihrer Situation gibt, ohne dass ihnen der Kopf abgehauen wird.

Zudem wollen wir den Westen davon überzeugen, die Sanktionen nicht zur Spaltung, sondern zum Wiederaufbau Russlands einzusetzen.

In Russland werden die Medien kontrolliert. Wie wollen Sie Ihre Idee an die Leute bringen?

Youtube und soziale Medien sind nach wie vor offen. Im Moment beeinflussen wir mit unseren Inhalten zehn bis fünfzehn Millionen Menschen.

Zudem stehen wir mit Eliten in Kontakt, ohne dass das öffentlich wird. Russland ist nicht Kolumbien, wo sich der Widerstand in den Bergen bemerkbar macht. Der Widerstand in Russland wird erst sichtbar werden, wenn das Regime ins Taumeln gerät.

Auf Ihnen ruht grosse Hoffnung. Das Schachgenie Garri Kasparow sagte, dass Sie der Mann der Stunde für die Zeit nach Putin seien. Was meint er damit?

Ich weiss, wie man eine neue Struktur für eine neue Regierung aufbaut. In der Opposition haben nur wenige Erfahrung damit.

Wären Sie bereit, in einem neuen Russland das Amt des Präsidenten zu übernehmen und Putin-Nachfolger zu werden?

In einem neuen Russland darf es keinen Präsidenten mehr geben – ob ich es bin oder jemand anders. Jeder Präsident würde wieder die gleichen Ziele verfolgen wie Putin, und es käme zu einer neuen Diktatur. Daher muss dieses Amt verschwinden.

Dann vielleicht ein Ministerposten für Sie?

Garri weiss, dass ich kein Politiker bin. Ich bin ein erfahrener Manager, der sich im Krisenmanagement auskennt. Zudem bin ich bald sechzig. Ich kann nicht mehr an sieben Tagen vierzehn Stunden arbeiten. Ich will kein Burnout.

Glauben Sie, dass Putin bei den Wahlen 2024 wieder antreten wird?

Wie es jetzt aussieht, will er das. Wenn er den Krieg verliert, kommt er sicher nicht wieder.

Es heisst, Putin sei krank. Was wissen Sie über seinen Gesundheitszustand?

Ich weiss nicht, wie es ihm geht. Aber er ist sicher nicht ernsthaft krank.

Sie wohnen seit acht Jahren in London, wo schon mehrere Giftanschläge auf russische Staatsfeinde verübt worden sind. Haben Sie keine Angst?

Viele Leute arbeiten in einem Beruf, in dem sie Risiken ausgesetzt sind – auch Journalisten … Dennoch üben sie ihren Beruf aus. Das Risiko ist auch Teil meines Berufs.

Gab es schon einen Anschlag auf Sie?

Nicht, seit ich aus dem Gefängnis entlassen worden bin.

In Medien heisst es, dass der Kreml ein Kopfgeld von 500’000 Dollar auf Sie ausgesetzt habe.

Jewgeni Prigoschin, der Chef der Wagner-Gruppe, hat dies öffentlich verkündet. Es stammt aber nicht von der Regierung selber. Putin hätte effektivere Methoden, wenn er mich schnappen wollte.

Nach Ihrer Haftentlassung lebten Sie in Rapperswil, zogen aber nach nur einem Jahr nach London. Warum blieben Sie nicht in der Schweiz?

Die Frage müsste lauten, warum ich überhaupt in die Schweiz gekommen bin. Meiner Frau gefällt die Schweiz, weshalb sie während meiner Gefangenschaft die Zwillinge da eingeschult hat.

Als ich entlassen wurde, zog ich zur Familie und wartete ab, bis das Schuljahr zu Ende war. Ich hatte mein Büro schon immer in London. Ich musste mich entscheiden, weil das Schweizer Gesetz keine zweite Niederlassung in einem anderen Land akzeptiert.

Welche Beziehungen unterhalten Sie heute zur Schweiz?

Wir haben immer noch ein Haus in Rapperswil, wo vor allem meine Frau immer wieder hinreist. Früher verbrachte ich oft die Wochenenden in Zürich. Da kann ich gut meine Gedanken ordnen.

Wie hat sich die Schweiz in Ihren Augen während Ihrer Gefangenschaft verändert?

Die Schweiz ist ein Land, in dem sich kaum etwas verändert. Als ich nach zehn Jahren wieder in die Schweiz zurückkehrte, gab es immer noch die gleichen Läden.

Sogar die Schaufenster waren noch die gleichen! Dass Manor schloss, war für Zürich wohl die grösste Veränderung der vergangenen Jahre.

Nun soll auch Jelmoli Ende 2024 schliessen.

Ist das wahr? Das ist für die Schweiz ja schon fast eine Revolution!

Wie beurteilen Sie das Verhalten der Schweiz im Krieg?

Am Anfang habe ich sie stark kritisiert, als sie die absolute Neutralität bewahren wollte. Auch wenn sie nicht in der EU ist, so ist sie doch Teil des europäischen Raums und kann die europäische Meinung – aus moralischer Sicht – nicht ignorieren.

Sie hat ihre Meinung ja inzwischen revidiert, russische Konten eingefroren und auch ukrainische Flüchtlinge aufgenommen.

Ende nächster Woche werden Sie einen mit Spannung erwarteten Auftritt an der Münchner Sicherheitskonferenz haben. Was werden Sie sagen?

Ich habe zwei Schwerpunkte. Erstens fordere ich die westlichen Länder auf, russische Fachkräfte abzuwerben, um so Putins Potenzial zu schwächen und gleichzeitig die eigene Wirtschaft zu stärken.

Und zweitens werde ich versuchen, den Westen davon zu überzeugen, Russland als ein Land zu erhalten und trotz des Kriegs nicht zerfallen zu lassen.

swissinfo.ch hat im letzten Herbst in einer Serie mehrere Putin-Gegner zum Gespräch getroffen, darunter den mehrfachen Schachweltmeister Garri Kasparov:

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