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Warum die Schweiz vom Zucker abhängig bleiben wird

Mutter kauft Süssigkeiten für kleines Mädchen
In der Schweiz liegt der Zuckerkonsum bei 110 Gramm pro Person und Tag und damit mehr als doppelt so hoch wie die von der Weltgesundheitsorganisation empfohlene Menge. Keystone / Alessandro Della Bella

Der hohe Zuckerkonsum in der Schweiz ist ein ernsthaftes Problem für die öffentliche Gesundheit. Er trägt zu Adipositas, Diabetes und anderen chronischen Krankheiten bei. Dass die Schweizer Politik in naher Zukunft etwas dagegen unternehmen wird, ist jedoch unwahrscheinlich.

Bonbons, Schokolade, Softdrinks: Die Schweizerinnen und Schweizer lieben alles, was Zucker enthält. Der Zuckerkonsum in Schweizer Haushalten ist einer der höchsten in EuropaExterner Link: Er liegt mehr als doppelt so hoch wie die von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfohlene Menge von 50 Gramm pro Person und Tag.

Bereits 2015 schlug die WHO wegen des übermässigen Zuckerkonsums und der Zunahme von Übergewicht und chronischen Krankheiten wie Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krebs Alarm.

In der Schweiz, wo mindestens 40% der erwachsenen Bevölkerung übergewichtig sind, sterben vier von fünf Menschen an diesen Krankheiten. Die damit verbundenen Gesundheitskosten werden auf über 50 Milliarden Franken pro JahrExterner Link geschätzt – das sind 80% der gesamten Gesundheitskosten.

Länder wie Frankreich, Belgien und das Vereinigte Königreich haben Massnahmen ergriffen, um den Zuckergehalt in Lebensmitteln und Getränken zu reduzieren. Sei dies durch Zuckersteuern, eine klarere Kennzeichnung oder ein Verbot von Werbung, die sich an Jugendliche richtet.

Die Schweizer Behörden hingegen haben trotz der Appelle von Gesundheitsorganisationen keine dieser Massnahmen eingeführt.

“Wenn wir nicht wie die USA werden wollen, wo 50% der Bevölkerung fettleibig und/oder zuckerkrank sind, müssen wir so schnell wie möglich handeln”, sagt Virginie Mansuy-Aubert. Die Wissenschaftlerin an der Universität Lausanne ist Expertin für die Wechselwirkung zwischen Ernährung und gesunder Darmflora.

Doch die Politik zögert, die milliardenschwere Nahrungsmittelindustrie zu bremsen, zu der auch der Gigant Nestlé gehört. Er hat seinen Hauptsitz in Vevey in der Nähe von Lausanne.

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Zucker ist ok, aber mit Mass

Zucker an sich ist nicht zu verteufeln, denn er ist für das reibungslose Funktionieren unseres Körpers unentbehrlich. Einer der wichtigsten Zucker für die Energiegewinnung ist die Glukose.

Sie entsteht bei der Verdauung von Kohlehydraten in Lebensmitteln wie Nudeln, Getreide, Obst und Gemüse. Mehrere Studien haben gezeigt, dass Glukose eine Schlüsselrolle bei der Entwicklung des menschlichen Gehirns gespielt hat.

Über den Verdauungstrakt gelangt sie in den Blutkreislauf und durch die Wirkung des Hormons Insulin in die verschiedenen Zellen des menschlichen Körpers, um diese zu “ernähren”.

>> Video: So schädigt Zucker die Zellen und verursacht Übergewicht, Diabetes, Krebs und andere schwere Erkrankungen:

Die Probleme beginnen, wenn die Dosis zu hoch ist. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts hat sich der Zuckerkonsum in der SchweizExterner Link fast verzwölffacht, von rund 8 auf 110 Gramm pro Person und Tag.

“Dieser enorme Anstieg ist besorgniserregend”, sagt Leonie Chinet, Generalsekretärin von Diabète Vaud, der Vereinigung für Menschen mit Diabetes im Kanton Waadt.

Wenn wir zu viel Zucker essen, wird die überschüssige Glukose in Körperfett umgewandelt, was zu Übergewicht führt. Zudem kann ein hoher Glukosespiegel mit der Zeit zu Gewebe- und Zellschäden, Entzündungen und chronischen Krankheiten führen.

Die weltweite Zunahme von Fettleibigkeit und damit zusammenhängenden Krankheiten beunruhigt die Schweizer Gesundheits- und Konsumorganisationen. Sie haben beschlossen, in die Offensive zu gehen.

So lancierte Diabète Vaud im Mai dieses Jahres eine öffentliche Kampagne oder vielmehr eine “Challenge” mit dem Titel “MAYbe Less Sugar”, um den Menschen zu helfen, sich ihres tatsächlichen Zuckerkonsums bewusst zu werden.

Jene, die sich angemeldet hatten, konnten mit dem Rechner im persönlichen Bereich der Kampagnen-Website die Menge an zugesetztem Zucker berechnen, die sie täglich konsumieren. Chinet ist mit dem Ergebnis sehr zufrieden: Fast 7000 Menschen haben teilgenommen, viel mehr als erwartet.

Die im Rahmen der Initiative gesammelten Daten zeigten jedoch, dass nur ein kleiner Teil von ihnen zu jenen Bevölkerungsgruppen gehörte, die am stärksten von übermässigem Zuckerkonsum betroffen sind: Jugendliche und Menschen aus sozial benachteiligten Schichten.

“Es ist schwierig, diese Menschen in Präventionskampagnen einzubeziehen. Deshalb sind strukturelle Massnahmen notwendig”, sagt Chinet.

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Versteckter Zucker in vielen Lebensmitteln

“Zucker ist überall versteckt”, sagt Forscherin Mansuy-Aubert. Bei einer Veranstaltung im Rahmen der Kampagne “MAYbe less sugar” half die Expertin einer Gruppe Jugendlicher, ihren Zuckerkonsum zu berechnen.

Die jungen Männer und Frauen waren überrascht, wie hoch ihr Zuckerkonsum war, obwohl sie keine Softdrinks tranken und keine Süssigkeiten assen. “Das Problem ist, dass alle verarbeiteten Lebensmittel, die wir essen, Zucker enthalten, aber wir das oft nicht wissen”, sagt Mansuy-Aubert.

Raffinierter Zucker und Sirup werden Lebensmitteln wie Schinken, Lasagne, Pizza und Schmelzkäse zugesetzt, um sie schmackhafter zu machen. “Das Ergebnis ist, dass wir diese Lebensmittel wieder und in grösseren Mengen essen wollen, ohne wirklich zu wissen, warum”, sagt Mansuy-Aubert.

Hinzugefügter Zucker wird wahrscheinlich vom menschlichen Stoffwechsel anders verarbeitet als Zucker aus Früchten oder unverarbeiteten Lebensmitteln.

Denn er ist nicht an andere Nährstoffe wie Ballaststoffe gebunden, die einem schnellen Anstieg des Blutzuckerspiegels entgegenwirken. Dadurch kommt es zu Blutzuckerspitzen, die das Diabetesrisiko erhöhen.

Wenn Genuss zur Sucht führt

Diese Blutzuckerspitzen vermitteln uns aber auch ein unmittelbares Belohnungsgefühl. Der Verzehr von Zucker stimuliert die Süssrezeptoren im Mund und die Glukoserezeptoren im Darm, die über Nervenbahnen mit dem Gehirn verbunden sind.

Dadurch wird der Botenstoff Dopamin ausgeschüttet, der uns ein Gefühl der Zufriedenheit vermittelt und unser Verlangen nach mehr Nahrung beeinflusst.

“Zucker aktiviert den Belohnungskreislauf im Gehirn. In diesem Sinn wirkt er wie eine Droge”, sagt der Neurowissenschaftler Serge Ahmed von der Universität Bordeaux. Er erforscht die psychologischen Mechanismen der Zuckersucht und deren Ähnlichkeit mit Drogensucht.

In einer Studie zeigte AhmedExterner Link, dass Ratten, die Zuckerwasser trinken, viel schneller Dopamin ausstossen als solche, denen intravenös Kokain gespritzt wird. Das machte den direkten Verzehr lohnender für sie.

Diese Forschungen deuten darauf hin, dass eine zuckerreiche Ernährung das Nervensystem stark stimuliert und ein aussergewöhnliches Belohnungssignal erzeugt, das zu einer Form der Sucht beitragen kann.

Ahmed glaubt, dass die Ursachen in der Evolution liegen: Säugetiere wie Ratten und Menschen hätten sich in zuckerarmen Umgebungen entwickelt und sich darum nicht an hohe Konzentrationen der Substanz angepasst. “Dies stellt ein grosses Problem für die öffentliche Gesundheit dar”, sagt der Wissenschaftler.

Regulierung von Zucker unwahrscheinlich

Um das Problem in den Griff zu bekommen, haben mehrere Länder wie Grossbritannien, Frankreich und Mexiko Massnahmen wie eine Steuer auf zuckerhaltige Getränke und Lebensmittel ergriffen. Die positiven Auswirkungen der Zuckersteuer sind allgemein anerkannt.

In der Schweiz hat das Parlament kürzlich einen ähnlichen Vorschlag abgelehnt. Stattdessen setzt das Land auf unverbindliche Massnahmen wie die Mailänder Erklärung.

Unternehmen, die diese Erklärung unterzeichnen, verpflichten sich freiwillig, den Zuckergehalt in ihren Frühstücksprodukten oder Süssgetränken zu reduzieren.

>> Video: Unternimmt die Industrie genug, um die Zuckermenge in Getränken zu reduzieren?

Hier kommen verschiedene Interessen ins Spiel. Laut Manuela Weichelt, Nationalrätin der Grünen und Präsidentin der Allianz Ernährung und Gesundheit, betreibt die milliardenschwere Agrar- und Lebensmittelindustrie – viele davon mit Sitz in der Schweiz – Lobbyarbeit, um Zucker aus dem Blickfeld des Schweizer Gesetzgebers zu halten.

Die Bemühungen der Unternehmen gehen dabei über die Schweizer Grenzen hinaus. Eine Recherche der NGO Public EyeExterner Link ergab, dass das Schweizer Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) 2019 im Namen von Nestlé in Mexiko interveniert haben soll, um die Einführung von Warnhinweisen auf ungesunden Lebensmitteln zu verhindern.

Auf Anfrage antwortete das Seco per E-Mail, es habe nicht im Interesse eines Unternehmens gehandelt, sondern in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der WelthandelsorganisationExterner Link (WTO), die Mitgliedländer vor Massnahmen schützt, die den Handel mit ihren Waren benachteiligen könnten.

In der Schweiz sei die politische Unterstützung für Zucker sogar noch weitreichender, sagt Patrick Dümmler, wissenschaftlicher Mitarbeiter der liberalen Denkfabrik Avenir Suisse.

Die Schweiz fördert und subventioniert den Zuckerrübenanbau für die einheimische Zuckerproduktion jährlich mit Millionen von Franken an öffentlichen Geldern.

“Es ist schizophren, mit öffentlichen Geldern Zuckerrüben anzubauen und zu raffinieren und gleichzeitig Kampagnen zur Reduktion des Zuckerkonsums zu finanzieren”, sagt Dümmler. Effektiver als eine Zuckersteuer seien Branchenvereinbarungen zur freiwilligen Reduktion, sagt er.

Weichelt rechnet angesichts der vielfältigen Interessen nicht mit einer baldigen Verschärfung der Zuckergesetze. “Zucker ist in der Schweiz unantastbar”, sagt die Politikerin.

Editiert von Sabrina Weiss und Veronica De Vore, Übertragung aus dem Italienischen: Christian Raaflaub

Übertragung aus dem Italienischen: Christian Raaflaub

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