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Generationenvertrag als sozialer Sprengstoff?

Jung und alt - gemeinsam. swissinfo C Helmle

Die gekippte Alterspyramide droht den Schweizer Generationen-Vertrag zu sprengen. Ohne ihn lässt sich das System der sozialen Sicherung nicht weiterführen.

An einem Caritas-Forum zur demografischen Alterung warnte man auch vor dem politischen Missbrauch dieses Themas.

Im 21. Jahrhundert wird die demografische Alterung der Bevölkerung zu einem zentralen Thema nahezu aller Länder der industrialisierten Welt. “Die demografische Entwicklung der nächsten Jahrzehnte wird sich vor allem auf Grund des Alterns geburtenstarker Jahrgänge, die selbst wenig Kinder zur Welt brachten, beschleunigen”, erklärte der Zürcher Soziologe Professor François Höpflinger an einem Caritas-Forum zum Thema in Bern.

Erst nach dem Tod der Baby-Boomer-Generation (die in den fünfziger Jahren Geborenen) werde die demografische Alterung wieder sinken. Höpflinger sieht die Entwicklung bis dahin in drei Schritten:

In einer ersten Phase werden auf dem Arbeitsmarkt mehr 45 bis 64-Jährige als unter 45-jährige gezählt werden. Der Arbeitsmarkt wird mit Anpassungsproblemen zu kämpfen haben.

Die nächste Phase wird durch einen starken Anstieg der Rentnerbevölkerung geprägt. Das wird das Rentensystem zu Anpassungen zwingen.

In der dritten Phase, wenn die Vertreter der geburtenstarken Jahrgänge ein hohes Alter erreichen, wird die Zahl der Pflegebedürftigen stark ansteigen.

Demografiefalle

Für Höpflinger ist die Frage jetzt schon interessant: “Wie die Nachkriegs-Generationen – die verinnerlicht haben, ein Leben lang aktiv und jugendlich zu sein – schlussendlich das Alter akzeptieren, oder vergeblich bekämpfen”?

Man spricht deshalb heute von der Demografiefalle: Während eine zunehmende Anzahl Menschen von den sozialen Einrichtungen der Schweiz profitiert, muss eine schrumpfende Anzahl mit ihren Lohn-Beiträgen die Maschinerie des Sozialstaates am Laufen halten.

Die Gefahr, dass die Solidarität der berufstätigen Jungen mit den pensionierten Alten nachlässt, wird deshalb zum brennenden Thema.

Zudem komme die Verjüngung der Bevölkerung nicht voran, führte die Zürcher Soziologin Irene Kriesi an. Weil für viele Frauen der Entscheid für eine eigene Familie nach wie vor ein Verzicht auf die gewünschte Berufslaufbahn bedeute, werde der Kinderwunsch immer weiter nach hinten geschoben – und am Schluss oft gar nicht mehr realisiert.

Mit diesem Problem haben auch andere Industrieländer zu kämpfen: Es gibt sogar Wissenschafter, die gar ein Aussterben der westlichen Hemisphäre befürchten.

Generationenvertrag oder Kampf der Generationen?

Wird die Solidarität aufgeweicht, stellt sich sofort die Frage, ob der Generationenvertrag in Gefahr ist. So weit wollen die meisten Politiker und Forscher, die sich mit diesem Thema auseinandersetzen, nicht gehen. Der Lausanner Professor Pierre Gilland warnte jedoch: “Dem Klassenkampf darf aber kein Kampf der Generationen folgen.”

Laut Gilland werden heute 45 Prozent der Sozialausgaben für das Alter ausgegeben respektive umverteilt, was den Zusammenhalt zwischen jung und alt strapaziere. Um diese Solidarität zwischen und innerhalb der Generationen nicht zu gefährden, müsse der unausweichliche Umbau der Sozialwerke die ganze Bevölkerung gleichermassen berücksichtigen.

“Die Alten von morgen…”

Silvia Grossenbacher von der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung betonte, dass die Individualisierung und Pluralisierung der Gesellschaft auch vor dem Alter nicht halt mache.

Sie warnte vor eindimensionalen Lösungen wie der Erhöhung des Rentenalters oder Rentenkürzungen. “Es ist nicht einzusehen, weshalb ein schlecht verdienender Mensch in einem anstrengenden Beruf länger arbeiten muss, um sich seine Ruhestandsexistenz zu sichern, als ein besser gestellter”, sagte Grossenbacher.

Materielle Sicherheit, ein gepflegtes Beziehungsnetz und eine Aufgabe, die man über die Pensionierung hinaus erfüllen könne, sind laut Grossenbacher für ein “gutes Altern” unerlässlich. Man müsse heute verhindern, dass morgen eine grosse Anzahl alter Menschen in Armut, Einsamkeit und Dumpfheit leben. Denn: “Die Alten von morgen sind – wir!”

Verschiedene Rezepte – unterschiedliche Lösungsansätze

Die verschiedenen Möglichkeiten, die Folgen der Überalterung abzufedern, wurden am Podiumsgespräch diskutiert. Vorschläge wie Programme zur Steigerung der Geburtenrate, kürzere Ausbildungszeiten, späteres Pensionsalter oder verstärkte Zuwanderung erzielten keinen Konsens. Solche Massnahmen könnten allenfalls mildernd wirken, den sozialen Sprengsatz jedoch nicht entschärfen.

Die junge sozialdemokratische Nationalrätin Pascale Bruderer betonte, dass ein gut funktionierender Generationen-Vertrag längst nicht nur finanzielle Aspekte einbeziehen dürfe. Soziale und ökologische Vorbedingungen gehörten auch dazu.

Thomas Held, Direktor der wirtschaftsnahen Denkfabrik Avenir Suisse, rief die jetzigen und künftigen Rentner dazu auf, ihre finanziellen Ansprüche herunterzuschrauben. Die heute in Aussicht gestellten Renten seien viel zu hoch. Held forderte eine verstärkte individuelle Vorsorge.

Die demografische Alterung dürfe nicht als Angstthema demagogisch missbraucht werden, warnte Kurt Seifert von Pro Senectute. Für ihn lautet heute die grosse Herausforderung: “Wie kann soziale Gerechtigkeit in einer alternden und wirtschaftlich nicht mehr expandierenden Gesellschaft geschaffen und erhalten werden?”

Darauf konnte niemand eine zufriedenstellende Antwort geben.

swissinfo, Etienne Strebel, Bern

Seit 1880 sinkt die Säuglingssterblichkeit.
Der Tod ist auch in mittleren Lebensabschnitten seltener geworden.
Ende des 19. Jahrhunderts wurde nur jede zwanzigste Person in der Schweiz älter als 65 Jahre. Heute ist es jede siebte.

Das Prinzip einer gemäss Umlageverfahren finanzierten Altersvorsorge wird als Generationenvertrag definiert (Die jüngere Generation zahlt mit ihren Beiträgen jeweils die Renten der momentan Pensionierten).

Das Aufziehen von Kindern wird teilweise auch als Teil des Generationenvertrags gesehen. Der Generationenvertrag ist kein Vertrag im rechtlichen Sinn.

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