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Isabelle Chassot will keine Billigschule

Isabelle Chassot, Präsidentin der Schweizerischen Erziehungsdirektoren-Konferenz (EDK). Keystone

Die neue Präsidentin der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren, Isabelle Chassot, ist unzufrieden, weil sich der Bund vor seinem finanziellen Engagement drücken will.

Chassot spricht mit swissinfo über die grossen Dossiers zur Harmonisierung des Bildungssystems und zur Neugestaltung der Hochschulen.

Isabelle Chassot hat langjährige politische Erfahrung. Sie war persönliche Mitarbeiterin der früheren Bundesrätin Ruth Metzler. Ausserdem vertrat sie von 1991 bis 2001 die Christlichdemokratische Volkspartei (CVP) im Grossen Rat (dem Parlament) des Kantons Freiburg.

Nun ist sie mit den angekündigten Budgetkürzungen des Bundes konfrontiert. Seit dem 1. Juli 2006 ist sie Präsidentin der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK), und sie widersetzt sich diesen Kürzungen heftig. Der Widerstand basiert auf ihrer Vision der Schule von morgen.

swissinfo: Hatten Sie sich den Anfang Ihrer Präsidentschaft so stürmisch vorgestellt?

Isabelle Chassot: Nein! Ich rechnete wirklich nicht damit, so schnell mit einer so grossen Herausforderung im Erziehungswesen konfrontiert zu werden. Vor allem nicht damit, dass ich gleich zu Beginn die Beschlüsse des Bundesrates (der Landesregierung) bekämpfen muss, in der Hoffnung, dass sie vom Parlament abgeändert werden.

swissinfo: Was sagen Sie zum Vorwurf, dass der Bund sich aus seiner gesetzlichen Pflicht zur Finanzierung des Erziehungswesens stehlen will?

I.C.: Der Bundesrat ist sich offenbar nicht bewusst, dass er in diesem Bereich eine grosse Verantwortung trägt.

Es ist unverständlich, dass er die Gesetze ändern will, dank denen die Kantone auf grosszügige Kredite für Bildung, Forschung und Innovation (BFI) von Seiten des Bundes hoffen können.

Volk und Stände haben im Mai die Verfassungsänderung der Bildungsartikel angenommen, die aus Bund und Kantonen Partner machen.

Die Politik des Bundes aber macht diesen zu einem “wenig verlässlichen” Partner in diesem Bereich. Dies umso mehr, als von ihm eher ein verstärktes Engagement erwartet wird.

Ich hoffe, dass die Debatten im Parlament eine Änderung bringen. Ich bin von Natur aus optimistisch und hoffe, dass der Bundesrat nochmals über die Bücher geht.

swissinfo: Ihr anderes grosses EDK-Dossier ist die Harmonisierung des schweizerischen Bildungssystems. Wie wollen Sie das erreichen?

I.C.: Bereits 1970 hat ein erstes Konkordat strukturelle Elemente wie Schuleintrittsalter und Anzahl obligatorischer Schuljahre festgelegt. Jetzt gehen wir weiter: Wir wollen auch die Ausbildungsziele harmonisieren. Denn die Lebensbedingungen der Bürgerinnen und Bürger in diesem Land haben sich verändert. Und die Abstimmung vom 21. Mai dieses Jahres hat bewiesen, dass das Volk Anpassungen wünscht.

Die Schule muss neue Bedürfnisse befriedigen, zum Beispiel solche von Einelternfamilien oder von Paaren, bei denen beide einem Beruf nachgehen. Die Schule muss nicht die Eltern ersetzen, sie hat vielmehr eine subsidiäre Rolle. Da muss sie die sozialen Veränderungen berücksichtigen.

So sind wir zum Beispiel der Meinung, dass ein Kind bereits mit 4 Jahren eingeschult werden und die obligatorische Schulzeit elf Jahre dauern soll.

Wir wollen auch die Ausbildungsziele harmonisieren und festlegen, was ein Schulkind zu einem bestimmten Zeitpunkt in seiner Schullaufbahn wissen muss. Es ist nicht eine Harmonisierung des Inhalts. Dieser bleibt den Sprachregionen vorbehalten, die ihn aufgrund ihrer Bedürfnisse festlegen. Harmonisieren heisst nicht vereinheitlichen. Ich denke da vor allem an das Erlernen der Sprachen.

swissinfo: Was bedeutet für Sie Ausbildung ganz allgemein?

I.C.: Das ist die wichtigste Aufgabe des Staates und der Gesellschaft. Die Schule ist der Ort, wo wir den Kindern die Chance zum Aufbau der Basis für ihr künftiges Erwachsenenleben und ihre gesellschaftliche und berufliche Integration geben. Es ist auch der Ort, wo wir ihnen die Freude am Lernen geben können, damit sie sich die Grundlagen ihres Lebens in der Gesellschaft schaffen können.

swissinfo: Welches sind die wichtigsten Werte, welche die Schule vermitteln muss?

I.C.: Gleichheit, Gerechtigkeit, Freiheit, Verantwortung, Demokratie… Sie muss auch die Integration fördern. Aber die Schule muss nicht nur Werte vermitteln, auch das Weitergeben von Wissen gehört zu ihren Aufgaben. Es ist unsere politische Verantwortung, dafür zu sorgen, dass die Kinder wichtige Kenntnisse erwerben und beherrschen.

Es genügt nicht, lesen, rechnen, zählen und schreiben zu können. Die Schule hat auch die Aufgabe, die Kinder auf das Leben vorzubereiten und Know-how zu vermitteln. Und sie muss den Kindern den Zugang zur Kunst und zu ethischen Dimensionen öffnen.

Ich bin mir bewusst, dass noch immer zu viele Menschen nach Abschluss der obligatorischen Schulzeit kein ausreichendes Grundwissen beherrschen, und das ist inakzeptabel. Mit den koordinierten Arbeiten wollen die Kantone das ändern.

swissinfo: Wie sehen Sie die Qualität der Ausbildung in der Schweiz?

I.C.: Wir dürfen uns sicher nicht unterschätzen.

Die Ausbildung hat in der Schweiz ein hohes Niveau, und auch die Zugewanderten sind gut integriert. Ausserdem schliesst in unserem Land der grösste Prozentsatz der Jugendlichen die Schulzeit mit der Sekundarstufe II (Berufsbildung oder Gymnasium) ab.

Doch wir müssen auch Mängel einräumen. Die Pisa-Studie hat gezeigt, dass die Schweiz nicht an der Spitze steht. Für unsere Kinder müssen wir aber immer das Beste anstreben.

swissinfo-Interview, Mathias Froidevaux, in Zusammenarbeit mit Emilie Bay
(Übersetzung aus dem Französischen: Charlotte Egger)

Am 21. Mai 2006 haben Volk und Stände die Verfassungsänderung der Bildungsartikel angenommen. Die Kantone behalten die Oberhoheit in der Erziehung, sollen aber die wichtigsten Rahmenbedingungen des Bildungssystems harmonisieren.

Anfang Juli 2006 hat der Bundesrat beschlossen, die Höhe der Kredite für Bildung, Forschung und Innovation für die Jahre 2008-2011 auf 4,5% zu beschränken.

Die Schweiz lässt sich ihre Studierenden pro Person und Jahr 11’000 Fr. kosten.
2003 gab sie 26 Mrd. Fr. für die Bildung aus (22,3 Mrd. kamen von den Kantonen, 3,5 Mrd. vom Bund, der die beiden Technischen Hochschulen das Landes allein finanziert).
Das ist mehr als die durchschnittlichen Bildungsausgaben der 29 anderen OECD-Länder.

In der Schweiz ist das Prinzip der öffentlichen Ausbildung in der Bundesverfassung verankert. Sie gehört im Wesentlichen in den Kompetenzbereich der Kantone, diese tragen zusammen mit den Gemeinden den grössten Teil der Finanzierung (rund 90%).

In der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) sind alle 26 Kantonsregierungen durch ein Mitglied vertreten.

Die Erklärung von Bologna vom 19. Juni 1999 wurde bisher von 45 Ländern des europäischen Raums unterzeichnet, auch von der Schweiz. Hauptziel ist die Harmonisierung der Studienstrukturen in Europa, um sie international attraktiver zu machen.

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