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Wie KI unsere Städte formen wird

Illustration: Hochhäuser, dazwischen Pfeile, welchee die Vernetzung andeuten.
Welche Auswirkungen hat es, wenn man in einer Stadt einen Parameter verändert? Das testen Stadtplaner:innen unterdessen mit sogenannten digitalen Zwillingen. Alamy Stock Photo/Credit: Panom Bounak / Alamy Stock Photo

Von Zürich über Boston bis Schanghai nutzen immer mehr Städte "digitale Zwillinge", um die urbane Lebenswelt von morgen zu planen. Aber was taugen diese Zukunftsvisionen?

Für Stadtplaner:innen reicht es nicht mehr aus, eine Karte mit Gebäuden und Strassen aus der Vogelperspektive zu betrachten. Sie müssen Änderungen an Buslinien oder Ampelschaltungen vor der Umsetzung simulieren, um herauszufinden, wie sie sich auf das Ökosystem Stadt und die Bewohner:innen auswirken.

Jetzt können sie dies mit digitalen Zwillingen tun. Diese Spiegelwelten sollen als dreidimensionale virtuelle Nachbildungen günstige und aussagekräftige Simulationen ermöglichen.

Städte wie New York, Shanghai und Helsinki nutzen bereits digitale Zwillinge. Im Jahr 2022 hat auch die Stadt Zürich eine Version lanciert. Mit ihr kann jede:r die Höhe von Gebäuden messen, den Schattenwurf bestimmen und einen Blick in die Zukunft werfen, um zu sehen, wie sich die grösste Stadt der Schweiz entwickeln könnte.

Verkehrsstaus, Wohnungsknappheit und ein höherer Energiebedarf werden in der Schweiz, wo bereits 74 % der Bevölkerung in städtischen Gebieten leben, zu dringenden Problemen.

Die Aktualisierung und Verwaltung der digitalen Zwillinge werde jedoch komplex, sagt der Architekt und Stadtplaner Aurel von Richthofen vom Beratungsunternehmen Arup. Insbesondere, wenn die Bevölkerungsdichte und der Detaillierungsgrad zunehmen.

Die aktuellen Stadtplanungsmodelle der Welt sind wie “individuelle Silos”, in denen “Daten nicht geteilt werden können, was die Stadtplanung nicht so effizient macht, wie wir es erwarten würden”, sagte von Richthofen kürzlich auf einer Veranstaltung des Schweizer Innovationsnetzwerks Swissnex.

Die Schweizer Forschenden haben dieses Dilemma erkannt und versuchen nun, Lösungen zu finden.

Die digitalen Zwillinge sind nur so gut wie ihre Daten

Die zugrundeliegenden Daten sind entscheidend dafür, wie nützlich eine digitale Zwillingsstadt ist. Es ist jedoch äusserst schwierig, Zugang zu hochwertigen Daten der relevanten Organisationen zu erhalten.

Sensoren, Drohnen und mobile Geräte können Daten in Echtzeit sammeln. Aber sie sind in der Regel auf einzelne Wissensbereichen ausgerichtet wie Flächennutzung, Gebäudekontrolle, Verkehr oder Ökologie und haben jeweils ihre eigene Datenerfassungskultur und physikalischen Modelle.

Gemäss von Richthofen, der das Arup-Team für integrierte Stadtplanung in Berlin leitet, ist es notwendig, verschiedene Modelle und Konzepte zu integrieren, um Planungsfragen besser behandeln zu können und dynamischere Versionen von digitalen Zwillingen zu schaffen.

Gemeinsam mit Forschenden der University of Cambridge und der ETH Zürich hat von Richthofen 2021 das Projekt Cities Knowledge Graph ins Leben gerufen. Es zielt darauf ab, relevante Daten zu sammeln, zu kombinieren und mit Stadtbewohnern und Planern zu teilen. Daten wie Baupläne, Verkehrsströme oder unterirdische Infrastruktur.

Das Projekt Cities Knowledge Graph des Future Cities Laboratory der ETH Zürich will die Nutzung und den Austausch von Daten über Städte mit Hilfe einer Plattform erleichtern. Das Video gibt einen Einblick (in Englisch):

Jede Stadt ist ein so einzigartiges, umfangreiches und vielschichtiges System, dass es für Stadtverwaltungen schwierig ist, einen umfassenden Überblick zu haben. “Aber unsere Arbeit wird ihnen helfen, alle Subsysteme, ihre Interaktionen und Verbindungen zu verstehen”, sagte von Richthofen. In seiner Arbeit gehe es darum “Fingerabdrücke zu nehmen, den Herzschlag zu messen und ein ganzheitliches Bild von jeder Stadt zu erstellen”.

Das Tool, an dem er arbeitet, soll auch nützlich sein, um beispielsweise das Energieangebot und die Nachfrage in lokalen Netzen aufeinander abzustimmen.

Wie virtuelle Werkzeuge Städte grüner machen können

Digitale Zwillinge können auch zur Verringerung der Kohlendioxidemissionen eingesetzt werden. Scandens, ein Spin-off der ETH Zürich, hat kürzlich eine Softwarelösung entwickelt, um den CO2-Fussabdruck grosser Gebäude zu reduzieren.

In der Schweiz verursacht der Gebäudesektor ein Fünftel der Treibhausgasemissionen des LandesExterner Link. Die meisten Gebäude werden immer noch mit Öl oder Gas beheizt. “Es gibt immer mehr gesetzliche Vorschriften, die Gebäudeeigentümer dazu verpflichten, die Dekarbonisierung zu beschleunigen”, sagt Scandens-Mitbegründer Kuba Szczesniak.

Das Jahr 2022 markiert einen bedeutenden Wandel in der Energiepolitik und den Gebäudestandards des Landes. Die Energiestrategie 2050 der Schweizer Regierung sieht vor, dass die Schweiz den Energieverbrauch von Schweizer Gebäuden um 39 % senken muss. Bis 2050 soll die Gesamtemissionsbilanz des Landes bei netto Null liegen.

In Genf sind energieintensive Gebäude bereits sanierungspflichtig. Die Sanierungspflicht wird schrittweise eingeführt, wobei die Gebäude mit dem höchsten Energieverbrauch pro Flächeneinheit Priorität haben.

Der Kanton Waadt hingegen verlangt, dass allen Mietangeboten und -verträgen ein Gebäudeenergieausweis beiliegt und der Energieverbrauch von Liegenschaften im öffentlichen Grundbuch ausgewiesen wird, um mehr Transparenz zu schaffen.

Simulationssoftware, wie die von Scandens entwickelte, kann Bauunternehmen und Immobilieneigentümer:innen helfen, digitale Zwillinge der betroffenen Gebäude zu erstellen.

Sie können dann die Energiebilanz und die Auswirkungen auf das Klima simulieren und berechnen, wie sich neu Heiz- und Kühlsysteme oder die Installation von Sonnenkollektoren auswirken.

Szczesniak sagt jedoch, dass viele Immobilieneigentümer:innen die Vorteile der digitalen Zwillinge nicht kennen. Er und sein Team verbringen viel Zeit damit, den Kunden das Konzept zu erklären, bevor die Zusammenarbeit beginnt.

“Die Aufklärung, die Förderung der digitalen Kompetenz und der Aufbau von Vertrauen in die Technologie sind sehr wichtig. Sonst werden die Menschen den Lösungen, die wir anbieten, nicht trauen”, sagt er.

Illustration: Artificial Intelligence, Künstliche Intelligenz

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Wo die digitalen Zwillinge funktionieren

Nicht alle sind vom Potenzial der digitalen Zwillinge überzeugt, um knappe Planungsressourcen in Städten kompensieren. Sohell SabriExterner Link, Assistenzprofessorin und Leiterin des Urban Digital Twin Lab an der University of Central Florida in den USA, schreibt in einer E-Mail an SWI swissinfo.ch, dass zwischen dem theoretischen und dem praktischen Einsatz digitaler Zwillinge in der Stadtplanung eine Lücke klafft.

Laut Sabri sind die fehlende Datenharmonisierung in verschiedenen Bereichen und die mangelnde Bereitschaft vieler städtischer Behörden, ihre Daten gemeinsam zu nutzen, die grössten Hindernisse.

Eine Studie aus dem Jahr 2023Externer Link kam zu einem ähnlichen Ergebnis: Forschende aus Singapur und den Niederlanden untersuchten vorhandene Studien und befragten 52 internationale Expert:innen, um die Hindernisse für den Einsatz digitaler Zwillinge in Städten zu ermitteln. Und die Gründe für die Lücken zwischen Vision und Realität zu erkunden.

Am häufigsten wurden datenbezogene Probleme genannt. Die Daten sind oft nicht standardisiert, nicht zugänglich oder nicht aktuell. All dies aber wäre nötig, damit ein Computer den Verkehr oder Energieverbrauch einer Stadt simulieren kann.

Während die heutigen digitalen Technologien, wie z. B. Satellitenbilder und Luftaufnahmen, “die physischen und funktionalen Merkmale von Städten messen können, ist die Messung des sozialen Aufbaus und der Erfahrungsaspekte schwierig”, so Sabri weiter.

Die sozialen Aspekte der urbanen digitalen Zwillinge wurden bisher wenig erforscht. Dazu zählen zum Beispiel die Ortsgebundenheit, die Bewegungen, die Gewohnheiten und die Entscheidungen der Stadtbewohner:innen.

“Städte sind eine Kombination aus objektiven und subjektiven Merkmalen”, so Sabri. “Unsere Erfahrungen mit einem Ort sollten nicht ignoriert werden. Ein digitaler Zwilling einer Stadt sollte mehr sein als ein Klon.”

Editiert von Sabrina Weiss and Veronica DeVore, aus dem Englischen übertragen von Marc Leutenegger

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