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Vom Ex-Knast zum internationalen Leuchtturm der Demokratie

"Bundesplatz 3": Dies war die Ausstellung, welche die Parlamentsdienste aus Anlass der 50. Schweizer Parlamentswahlen von Oktober 2015 im Politforum Käfigturm veranstalteten. Auch unter den Besuchern: Philippe Schwab, Generalsekretär von National- und Ständerat. Keystone

Nach der starken Mobilisierung rund um die Durchsetzungs-Initiative in der Schweiz stellt sich die Frage, wie das für eine lebendige Demokratie so zentrale öffentliche Gespräch auch zwischen den Abstimmungs-Sonntagen gefördert werden kann? swissinfo.ch fand eine Antwort hinter den dicken Mauern eines ehemaligen Gefängnisses mitten in der Hauptstadt Bern.

Wer die engen Wendeltreppen des Bauwerks aus dem 13. Jahrhundert hinaufsteigt, entdeckt hinter den meterdicken Mauern des ursprünglichen Wehrturmes und späteren Gefängnisses (Schweizerdeutsch “Chäfig”, deshalb “KäfigturmExterner Link“) nicht nur ein Demokratie-Informationszentrum, sondern auch Veranstaltungs- und Ausstellungsräumlichkeiten. 

Wehranlage, Gefängnis, Demokratie-Zentrum im politischen Zentrum der Schweiz, aber nur noch bis Juni: Der Käftigturm in Bern. Keystone

Der Clou dabei: Diese Räumlichkeiten stellt der Bund jedem Bürger und jeder Bürgerin an bester Lage unweit des Bundeshauses zur Verfügung. Quasi als Abwart amtieren die Parlamentsdienste.

Dabei gilt ein ebenso einfaches wie republikanisches Prinzip. “Wer zuerst bucht, bekommt den Veranstaltungsraum, ganz unabhängig, ob Aussenminister oder Bäckermeister, Schweizer Bürger oder Besucher aus Australien. Und das gratis”, sagt Michael Fritsche. Gemeinsam mit Andreas Schilter und einem kleinen Team leitet Fritsche seit 1999 das Politforum, in dem jährlich über 400 Veranstaltungen stattfinden.

“Wer etwas Politisches vorhat, ist bei uns an der richtigen Adresse”, sagt Schilter. “Dazu gehören neben Medienorientierungen grosser Verbände auch Gründungsversammlungen von kleineren Initiativkomitees oder ein Streitgespräch mit einem Vertreter der israelischen Botschaft über die Nahostpolitik”. 

Dabei geht Vertrauen über Kontrolle. So wird den Organisatoren auch mal zugemutet, den Turm nach Ende der Veranstaltung in eigener Verantwortung abzuschliessen. Tatsächlich gab es in all diesen Jahren trotzt oft sehr brisanter Themen nie Probleme mit der Sicherheit. Und damit geriet der Käfigturm auch nie in die Schlagzeilen.

San Sebastian/Donostia: Vom Folter-Gefängnis für Gegner der Franco-Diktatur zum Zentrum für demokratischen Bürgerdialog. Bruno kaufmann

Wenig gespart, viel verloren

Vielleicht ist gerade die Stille seines Erfolgs der Grund, warum die Buchhalter des Bundes den Käfigturm zum Objekt einer bescheidenen Sparübung in Höhe von weniger als einer Million Franken pro Jahr machten.

Die Schliessung ist auf Anfang kommenden Juni angekündigt. Und das zum Zeitpunkt, wo der Bund für die Auffrischung von über 2000 Armeefahrzeugen über eine halbe Milliarde Franken in die Hand nimmt. 

Eine Schliessung wäre mehr als ein buchstäblich kapitaler Fehler, nämlich ein Schritt in eine weniger demokratische Richtung. Dabei war es gerade der demokratische Dialog, der bei der Abstimmung vom 28. Februar über die Durchsetzungs-Initiative wesentlich zur Mobilisierung breiter gesellschaftlicher Kreise beigetragen hat.

Das Aus in Zeiten der “Demokratie-Euphorie”

Dieser 28. Februar 2016 wirkt nach: 63,1% – die höchste Stimmbeteiligung seit fast einem Vierteljahrhundert. Eine öffentliche Debatte, die kaum jemanden unberührt liess. Und dazu ein Abstimmungsergebnis, das national und international für grosses Aufsehen sorgte.

Nach dem klaren Nein der Schweizer Stimmbevölkerung zur umstrittenen Durchsetzungs-Initiative haben sowohl Gewinner und wie auch Verlierer die Vorteile und die Weisheit unserer direkten Demokratie gelobt. 

Ein Bürger an einer politischen Veranstaltung im Demokratie-Zentrum in Südkoreas Hauptstadt Seoul, das sich über sieben Stockwerke erstreckt. Brunfo Kaufmann

Dabei wird aber zu schnell vergessen, dass der eigentliche Nährboden unserer modernen Demokratie nicht nur in den direktdemokratischen Volksrechten Initiative und Referendum zu finden ist, die im internationalen Vergleich gut ausgebaut sind. Wichtig sind auch konstruktiv geführte öffentliche Dialoge, die weisen Beschlüssen vorausgehen. Und dafür braucht es neben den in der Verfassung verankerten Mitbestimmungsrechten eine partizipative Infrastruktur.

In manchen Gemeinden ist sie in Form von Vereinen und Gasthäusern durchaus noch vorhanden. Aber in bevölkerungsreichen Agglomerationen sowie auf Bundesebene sind solche Räume heute alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Hinzu kommen die Medien als wichtiger Nährboden für eine konstruktive Streitkultur, in der nicht einfach jener mit dem grössten Portemonnaie die Oberhand behalten kann.

Das Demokratiezentrum in der schwedischen Stadt Falun. Bruno Kaufmann

Die rasanten technischen und gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahre haben deutlich gemacht: Es braucht mehr als eine hochumstrittene Volksabstimmung mit Rekordbeteiligung alle 25 Jahre, um die wichtigsten Errungenschaften unserer modernen Demokratie weiterzuentwickeln. Diese sind Mitsprache, Rechtsstaat und eine Kultur der Offenheit und Toleranz. 

Neben privaten Kräften, wie sie etwa im Vorfeld der Abstimmung zur Durchsetzungs-Initiative sehr aktiv geworden sind, ist aber gerade für die weniger intensiven Momente zwischen den Abstimmungen auch die öffentliche Hand gefordert. Und wie bei den direktdemokratischen Volksrechten als solchen, so spielt die Schweiz auch bei der partizipativen Infrastruktur – sozusagen die Parlamentsdienste für das Volk – weltweit in der Champions League mit.

Aber dessen ist sie sich nicht immer bewusst. Dazu gehört neben dem legendären, einmaligen, aber erst seit gut vierzig Jahren produzierten Abstimmungsbüchlein auch die schrittweise Einführung des E-Votings. Und eben der alte Wehrturm, der sich in seinen 800 Jahren vom Bollwerk der kriegerischen Abschottung zur Bühne der politischen Inklusion wandelte.

Gnadenfrist

Die Schliessung des Politforums Käfigturm ist aufgeschoben: Anfang April entschied die Schweizer Regierung, den Betrieb des Bürgerforums bis auf Ende 2017 zu verlängern.

Dies soll dem Politforum ermöglichen, um sich nach einer neuen Finanzierung umzusehen.

Der Betrieb kostet jährlich rund 800’000 Franken. Der Bund will diese Summe als Massnahme des “Stabiliserungungs-Programmes 2017 bis 2019” einsparen.

swissinfo.ch

Ausstrahlung bis nach Südkorea

Unabhängig davon, ob es sich um eine Gruppe chilenischer Journalisten, deutscher Parlamentarier oder koreanischer Juristen handelt: Wer die Schweiz besucht, um mehr über deren Demokratie zu erfahren, legt früher oder später einen Stopp im Politforum Käfigturm ein. In den letzten 16 Jahren haben hunderte solcher Besuchergruppen im Ex-Knast Halt gemachten – und liessen sich von der Idee und Praxis dieser volksnahen Infrastruktur überzeugen.

Die Folge: Rund um den Erdball sind kleinere und grössere Kopien des Politforums entstanden. Am beindrucktesten ist sicher die siebenstöckige “Citizens Hall” in der koreanischen Hauptstadt Seoul. Sie ging aus einem Besuch einer Expertendelegation in Bern 2008 hervor.

Oder der “Public Access Room” im State Capitol von Honolulu auf Hawaii, wo Bürgerinnen und Bürger bei der Ausübung ihrer politischen Rechte tatkräftige Unterstützung finden.

Auch in Europa sind nach dem Käfigturm-Vorbild Demokratieräume entstanden. So etwa im baskischen San Sebastian, wo analog zu Bern ein ehemaliges Gefängnis aus der Franco-Diktatur in ein Zentrum für Bürgerpartizipation umfunktioniert wurde. Wo früher Menschen für ihre politische Meinung gefoltert wurden, werden sie heute von einem neunköpfigen Team der Stadt bei der Ausübung ihrer Rechte beraten. 

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