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«Bei der WM 1954 war Sicherheit kein Thema»

Der WM-Final Deutschland-Ungarn (3:2) wurde am 4. Juli in Bern von 63'800 Zuschauern verfolgt. Keystone

Vor über 50 Jahren fand in der Schweiz die Fussball-Weltmeisterschaft statt. Abgründe liegen zwischen dem damaligen Ereignis und der jetzigen Euro 2008, wie zwei Forscher der Universität Neuenburg feststellen konnten.

Die Euro 08 ist mittlerweile in vollem Gang. Seit über 50 Jahren hat die Schweiz kein Sportereignis von dieser Grösse und Bedeutung mehr organisiert.

Zwei Forscher der Universität Neuenburg, der Geograf Roger Besson und der Historiker Francesco Garufo, haben das heutige Sport-Event mit der Weltmeisterschaft von 1954 verglichen. Dabei zeigt sich die unglaubliche Entwicklung, die der Fussball in den letzten Jahrzehnten durchgemacht hat.

swissinfo: Die Organisation der Euro 08 erscheint präzise wie eine Schweizer Uhr. War das auch 1954 schon so?

Roger Besson: Nein, die ganze Organisation war viel stärker improvisiert. An viele Aspekte dachte man erst in letzter Minute. Aber man muss auch betonen, dass die Planung der Endrunde nicht einfach war. Denn die Qualifikation wurde erst zwei Monate vor Beginn der WM abgeschlossen. In der Schweiz wurden die ersten Tickets drei Monate vor Turnierbeginn verkauft. Ende Mai hatte die Zentrale für den Ticketverkauf noch 15’000 Anfragen. Und das Turnier begann am 16. Juni. Das war eine Art Notstandsituation.

Francesco Garufo: Das Organisationskomitee delegierte einfach alles, was es delegieren konnte. Die Gaststädte mussten sich um die Logistik kümmern, für den Billettverkauf engagierte man eine externe Firma – die Reiseagentur Helvetia European Tours. Für Unterkunft und Tourismus wurden alle entsprechenden Akteure aus der Branche eingespannt.

swissinfo: Sie sprachen von Improvisation. Ein Match musste sogar verschoben werden…

F.G. Das stimmt. Die Partie Schweiz-Italien sollte eigentlich in Genf ausgetragen werden, wurde dann aber nach Basel verlegt. Man muss allerdings wissen, dass es sich um ein Entscheidungsspiel in der Gruppe handelte. Das Spiel war also nicht von Anfang an geplant.

Die Italiener weigerten sich, in der französischen Schweiz zu spielen, weil sie sich durch den Kommentar eines welschen Journalisten während des ersten Spiels gegen die Schweiz beleidigt fühlten.

swissinfo: Mit welchen Hauptschwierigkeiten hatten die Organisatoren damals zu kämpfen?

R.B.: Es gab diverse Pannen, insbesondere beim Ticketverkauf. Das Organisationskomitee war der Auffassung, dass Helvetia European Tours die Abwicklung nicht im Griff hatte.

swissinfo: Es gab also keinen Ansturm auf die Billette wie bei der Euro 08?

F.G. Die Leute waren viel wählerischer. Einige Spiele wurden vom Publikum praktisch geschnitten, beispielsweise Türkei gegen Südkorea in Genf. Nur gut 4000 Zuschauer verfolgten den Match im Stadion. Bei anderen Spielen wurde die zulässige Höchstkapazität der Stadien hingegen überschritten. Die Partie Deutschland-Österreich im St. Jakob-Stadion in Basel verfolgten 58’000 Zuschauer. Das waren fünf Prozent mehr als zugelassen.

Ein Ansturm auf die Tickets lässt sich erst seit einigen Jahren feststellen. Das ist sicherlich eine Folge des grossen Medienrummels rund um diese Ereignisse. Noch bis vor 20 Jahren gingen bei gewissen WM-Spielen nur wenige Zuschauer ins Stadion. Inzwischen sind Europa- oder Weltmeisterschaftsspiele zu einem «place to be», zu einem über den Sport hinaus gesellschaftlichen Ereignis an sich geworden.

swissinfo: Heute wird allenthalben betont, dass eine Veranstaltung wie die Euro 08 wichtig ist für das Image und den Tourismus in der Schweiz. War dieses Thema auch 1954 präsent?

R.B.: 1954 hat man über die Auswirkungen auf den Tourismus erst im Nachhinein gesprochen, insbesondere um die Organisation der Veranstaltung zu rechtfertigen. Im Abschlussbericht zur WM geht man in mehreren Seiten auf dieses Thema ein. Vor der WM sprach niemand darüber.

Die Weltmeisterschaft hat sicherlich Besucher angezogen – eine Zeitung sprach von Tausenden verkaufter Tickets in den USA – , doch es gibt keine zuverlässigen Zahlen, um die realen Auswirkungen auf den Tourismus zu quantifizieren. Erstaunlicherweise finden sich bestimmte Argumentationen von heute auch schon 1954: Ein Turnier zu organisieren ist teuer und führt zu Chaos, schafft aber gleichzeitig ein positives Image für das Land.

swissinfo: Und die Sicherheit? Wie wichtig war dieses Thema 1954?

F.G.: Dieses Thema existierte nicht. Es gab Probleme in der Logistik, beim Ticketverkauf, bei den Infrastrukturen, aber nicht bei der Sicherheit.

Die Fans wurden nicht als Gruppen wahrgenommen, sondern als Individuen. Auch innerhalb des Stadions gab es keine Sektoren für bestimmte Fans. Vor 50 Jahren gab es rund um sportliche Ereignisse keine Gewalt. Das Stadion war keine Plattform, um politischen Streit auszutragen. Es gab auch keine Tragödien als Folge von massivem Publikumsandrang.

Die Sicherheitsagenten mussten in erster Linie Gewalt auf dem Rasen verhindern. Gemeint sind Auseinandersetzungen zwischen Spielern oder zwischen Spielern und Schiedsrichter. Sie mussten auch dafür sorgen, dass der Platz in den Stadien optimal genutzt wurde, indem sie allenfalls die Zuschauermenge in eine Richtung drücken mussten.

R.B.: Im Abschlussbericht zur WM 1954 findet sich kein einziges Wort zur Sicherheit. Man kann sich leicht vorstellen, dass ein Grossteil des Rechenschaftsberichtes zur Euro 08 genau diesem Themenkomplex gewidmet sein wird.

swissinfo-Interview: Daniele Mariani
(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)

Die Fussball-Weltmeisterschaft 1954 in der Schweiz fand vom 16. Juni bis 4. Juli statt. Beteiligt waren 16 Mannschaften.

Den 26 Spielen wohnten gesamthaft 745’000 Zuschauer bei.

Die Spiele wurden in Basel, Bern, Zürich, Genf, Lausanne und Lugano ausgetragen.

An der WM 1954 fielen bisher am meisten Tore: 140, was einem Match-Durchschnitt
von 5,4 Toren entspricht.

Im Final in Bern gewann Deutschland gegen Ungarn 3:2.

Die Euro 2008 findet vom 7. bis 29. Juni in der Schweiz und in Österreich statt. 16 Mannschaften nehmen daran teil.

Für die 31 Spiele wurden sämtliche vorhandenen Tickets, nämlich 1,05 Millionen, verkauft.

In der Schweiz finden die Spiele in Basel, Bern, Zürich und Genf statt; in Österreich in Wien, Klagenfurt, Innsbruck und Salzburg. Der Final geht am 29. Juni in Wien über die Bühne.

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