Die malerische Reise ins Engadin
Das Engadin zieht sich über 100 km entlang der südlichen Alpenkette. Ich hoffe, das mir ein Besuch in diesem Tal, traditionsgemäss ein Zentrum des Rätoromanischen, hilft, mehr über diese mysteriöse Sprache und ihre Kultur zu erfahren. Ich steige in der Kantonshauptstadt Chur in die Rhätische Bahn Richtung St. Moritz und geniesse aus dem Panorama-Wagen den Ausblick auf diese aufregende Landschaft. Sobald wir im Oberengadin eintreffen, erfolgen die Ansagen im Zug auf Rätoromanisch wie auch auf Deutsch und Englisch. (Bilder und Text: Isobel Leybold-Johnson, swissinfo)
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St. Moritz für jedermann
Im Zentrum des Ortes stelle ich fest, dass die Puter, das rätoromanische Idiom der Gegend, nicht vollständig vergessen ist. Viele Hotels benutzen dazu das Wort in Rätoromanisch: "Chesa". Viele Strassennamen sind in Rätoromanisch. Der Platz vor der Schule heisst "Plazza da Scoula", das Parkverbot ist aber auf Deutsch, derweil die Touristen-Information ein Symbol braucht, das jeder Tourist ob aus Japan, Deutschland, den USA oder Italien problemlos versteht.
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Glanz von St. Moritz
Auch wenn im Winter viel mehr los ist, so spürt man auch im Sommer den Jet-Set-Ruf von St. Moritz. Da sich der internationale Tourismus hier in den letzten hundert Jahren rapid entwickelt hat, unterscheidet sich der heute mehrheitlich deutschsprachige Ferienort stark von seinen Nachbardörfern. Hier liegt der Fokus auf seinem "Champagner-Klima" mit 322 Sonnentagen pro Jahr, Wintersport und schicker Kundschaft. Der Ruf ist so enorm, dass der Name St. Moritz gar vermarktet wurde. Auf den ersten Blick scheint vom Erbe des San Murezzan nicht viel übrig zu sein.
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Celerina - Schlarigna
Nach ein paar Minuten Zugfahrt erreicht man das Dorf Celerina und erlebt einen totalen Wechsel. Bei einem Spaziergang durchs Dorf entdeckt man zahreiche typische Engadiner-Häuser. Diese haben dicke cremefarbige Mauern, versenkte Fenster und "sgraffito", das sind Sprüche oder Bilder, die auf die Fassade geätzt wurden. Obwohl der Ort sehr romanisch wirkt, kennt man ihn sowohl als Celerina und Schlarigna (Rätoromanisch). Deutsch scheint allerdings unter den Leuten die wichtigste Sprache zu sein.
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Tourismus
Der Tourismus ist in Celerina sehr bedeutend. Viele Hotels oder Pensionen benutzen rätoromanische Namen, die Informationen laufen allerdings meist auf Deutsch oder Italienisch, was die wichtigsten Märkte der Region widerspiegelt. Im Touristenbüro sagt man mir, die Gäste seien zwar sehr interessiert an der Engadniner Architektur und an kulinarischen Delikatessen, jedoch weniger an der rätoromanischen Sprache und Kultur. So ist Rätoromanisch denn auch nicht im Angebot.
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Die Erhaltung einer bedrohten Sprache
Celerina hat seine eigene Verfechterin des Rätoromanischen. Es ist Annemieke Buob, Präsidentin der "Uniun dals Grischs", einer Organisation, welche sich für die Förderung der Sprache einsetzt. "Rätoromanisch wird in der Gemeinde zur Minderheitensprache", sagt sie mir. "Die Schule ist zweisprachig, die Kinder lernen vom Kindergarten an Deutsch und Rätoromanisch. Rund 20 bis 30 Prozent der Leute sprechen Rätoromanisch, die Zukunft hängt jedoch von der Bevölkerung ab." Sie macht den Tourismus und die Industrie für den Rückgang verantwortlich.
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Unbeliebtes Rumantsch Grischun
Annemieke Buobs Organisation unterhält eine Buchhandlung, die vor allem Werke in Puter anbietet. Es gibt eine grosse Auswahl an Romanen und Reihen farbenfroher Kinderbücher. Nur eine kleine Ecke widmet sich dem Rumantsch Grischun, der rätoromanischen Schriftsprache, die in den 1980er-Jahren eingeführt wurde. "Kaum jemand kauft diese Bücher, niemand interessiert sich für Rumantsch Grischun", sagt Buob. Die Leute hätten Angst, es würde das Ende von Puter bedeuten.
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Malerisches Scuol
Eine zweistündige Zugfahrt bringt mich ins eher abgelegene Unterengadin. Bei der Reise durch zerklüftete Täler kann ich mir gut vorstellen, wie das Rätoromanische über all die Jahre überleben konnte. Ich treffe in Scuol, dem Hauptort ein, einem Kurort mit einem reizenden alten Kern aus alten Engadinerhäusern und Strassen mit Kopfsteinplaster. Hier heissen die Häuser "Chasa".
Ich bin also in einer Region, wo Vallader gesprochen wird. Mir wird erzählt, dass das Rätoromanisch des Unter- und des Oberengadins sich ähnlich sind und die Leute einander verstehen, was auf die anderen rätoromanischen Idiome nicht unbedingt zutrifft.
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Vergangene Zeiten
Vor 50 Jahren wurde in Scuol ein Museum zur Geschichte des Unterengadins eingerichtet, um die ländliche Lebensweise zu erhalten, die am Verschwinden war. Lüzza Rauch, Direktor der Museums-Stiftung, nimmt mich auf einen Rundgang, der in der Küche beginnt: "Zur Jahrhundetwende gab es rund 1500 Bauernbetriebe im Unterengadin, jetzt sind es noch 300", erzählt er mir. "Die Landwirtschaft hat sich über Jahrhunderte kaum verändert. Das Museum zeigt den ursprünglichen Lebensstil dieser Alpenregion."
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Alltagssprache
Ein Gang durch die grösste Einkaufsstrasse macht klar, dass Rätoromanisch in Scuol die erste Sprache ist. Fast alle Schilder sind ausschliesslich auf Rätoromanisch. Auch auf den Strassen wird Rätoromanisch gesprochen. Alle sind jedoch zweisprachig, Deutsch ist vor allem in Hotels und Restaurants verbreitet, was auf den Einfluss des Tourismus hinweist. Rund 50% der Bevölkerung bezeichnen Rätoromanisch als die Sprache, die sie am besten beherrschen.
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Kulinarische Forschung
Zeit für eine Pause, höchste Zeit, um die Nussturte, eine Engadiner Spezialität, zu versuchen. Engadiner Bauern buken traditionsgemäss die "Tuatscha grassa", ein Gebäck aus Mürbeteig, in der Regel für den Sonntag und für Gäste. Engadiner Konditoren verfeinerten die Spezialität und fügten Caramel-Crème sowie Baumnüsse bei. Herrlich, jedoch nichts für zaghafte Gemüter!
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Blick auf Guarda
Unweit von Scuol liegt Guarda, hoch über dem Tal auf einer Sonnenterrasse. Der betörende Ausblick gab dem Dorf seinen romanischen Namen, der "Blick" bedeutet. Die Bahnstation ist weiter unten im Tal. Um ins Dorf zu gelangen, muss man das Postauto nehmen. Das Gebiet ist äusserst beliebt als Ausgangsort für Wanderungen. Bei der Ankunft in Guarda wird umgehend klar, dass es sich um rätoromanische Stammlande handelt.
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Stolz auf Romantsch
Im Postauto wird Rätoromanisch gesprochen. Willi Flurin, der Fahrer, erklärt mir, dass es die wichtigste Sprache im 150-Seelen-Dorf ist. "Rätoromanisch ist für uns sehr wichtig. Wenn wir Rätoromanisch sprechen, spüren wir unsere Identität. Kinder lernen es zuerst in der Schule, später folgt Deutsch. Hier spricht man automatisch Rätoromanisch", sagt er.
Er hat keine Angst, dass Rätoromanisch in Guarda aussterben könnte, sieht aber eine Gefahr in grösseren Ferienorten, wo auch andere Sprachen gesprochen werden.
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Die Zeit steht still
Ein Spaziergang durch die ruhigen Strassen von Guarda enthüllt einen Ort, der seinen rätoromanischen Lebensstil erhalten hat. Ein typisches Engadiner Dorf von nationaler und historischer Bedeutung wegen seines Reichtums an Sgraffito-Häusern. Die Türen stehen offen, und sogar Touristen werden von den Dorfbewohnern mit einem "Bun di" (Guten Tag) begrüsst.
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A revair - Auf Wiedersehen
Zeit, sich von Scuol zu verabschieden. Mir scheint, die Unterschiede im Engadin fassen die Herausforderungen zusammen, mit denen das Rätoromanische konfrontiert wird. Im Oberengadin verschwindet die Sprache infolge des Einflusses der deutschen Sprache und des Tourismus. Im Unterengadin hingegen bemühen sich die Menschen um eine Erhaltung des Rätoromanischen.
Teil des Problems ist, dass Rätoromanisch in einer alten, ländlichen Lebensweise verwurzelt ist und heute meist im sozialen Leben und nicht in der Arbeitswelt verwendet wird. Zudem brauchen die Leute lieber ihr eigenes Idiom als Rumantsch Grischun. Und: Sie hoffen, dass Rätoromanisch überleben wird, auch wenn nicht alle daran glauben.
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Eine englische Journalistin auf den Spuren von Puter und Vallader im Engadin.
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