Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

Harsche Töne in der Arbeitswelt

Die Gewerkschaften sind die Ausflüchte der Arbeitgeber müde - und wollen streiken. (Bild: GBI) Die Gewerkschaften sind die Ausflüchte der Arbeitgeber müde - und wollen streiken. (Bild: GBI)

Der Schweizer Arbeitsfriede steht vor einer Bewährungsprobe: Am Montag ruht auf dem Bau die Arbeit.

Branchen-Streiks sind in der Schweiz selten – im Gegensatz zu den Nachbarländern. Geschieht es aber doch einmal, erregt es umso mehr Aufsehen.

Die Bauarbeiter werden über das Wochenende keine Gespräche mit den Bauunternehmern führen. Der angekündigte Streik vom Montag ist Teil der Kampagne um die Frühpensionierungs-Regelung.

“Dieser Streik ist der grösste Bauarbeiterstreik in der Geschichte der Schweiz seit 1947”, sagt Vasco Pedrina, der Chef der Gewerkschaft Bau und Industrie (GBI).

Auch die tendenziell wirtschaftsfreundliche “Neue Zürcher Zeitung” vertritt die Ansicht, dass der Streik vom Montag nicht mehr verhindert werden kann.

Baufachleute und Pöstler

Der Streik der Bauarbeiter und der bevorstehende Arbeitskampf der Postgewerkschaft gegen die angekündigte Poststellenschliessung und dem damit verbundenen, schweizweiten Abbau von 2500 Arbeitsstellen, zielen vordergründig nicht in dieselbe Richtung.

Für Vasco Pedrina ist jedoch klar, dass “alle Arbeitnehmer heute um die Verteidigung ihrer Rechte am Arbeitsplatz sowie ihrer Würde als Arbeitnehmende kämpfen.”

Ausserdem haben unter dem Motto “Veto – Gegen die Demontage des Service public” am Freitagnachmittag rund 20’000 Personen gegen die Sparpläne der Berner Kantonsregierung auf dem Bundesplatz in Bern protestiert.

Drohende Eskalation

Der Zwist zwischen Arbeitnehmern und -gebern ist in der Schweiz nicht so eskaliert, wie in Frankreich oder Italien. Viele Menschen in der Schweiz wundern sich jedoch über die immer stärker aufgeheizte Atmosphäre, welche den Arbeitsfrieden ernsthaft gefährden könnte.

Peter Hasler, Präsident des Schweizerischen Arbeitgeberverbandes, meint dazu: “Es handelt sich um zwei spezifische Probleme: Im Bauwesen geht es im Konflikt um einen Gesamtarbeitsvertrag. Bei der Post protestieren die Angestellten jedoch gegen eine Restrukturierung. Der Streik könnte zwei Branchen betreffen. In den anderen Sparten, so scheint es mir, ist es relativ ruhig.”

Dem hält Paul Rechsteiner, Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB) entgegen: “Wir haben während der Hochkonjunktur nicht gestreikt. Aber wenn sich die Bedingungen ändern, müssen die Arbeitnehmenden dieses fundamentale Recht für sich in Anspruch nehmen.”

“In den nächsten Monaten wird eine viel breitere Streikbewegung entstehen, wenn die Arbeitgeberseite ihre Position nicht verändert!” poltert Gewerkschafter Vasco Pedrina.

Weit vom Generalstreik entfernt

Der letzte Generalstreik fand im Jahr 1918 statt. Seither war die Schweiz im internationalen Vergleich relativ streikfrei, wenn man von der schlechten Lage in den 40er Jahren und der Krise der 90er einmal absieht.

Dank dem Wohlstand in der Schweiz konnten die Schweizer Arbeitnehmenden relativ lange von verbesserten Arbeitsbedingungen und einem stetig steigenden Lebensstandard profitieren.

Die bisherige Stabilität gründet auf dem Friedensabkommen aus dem Jahr 1937, das Gewerkschafter und Arbeitgeber aus der Metallbranche unterzeichneten. Es handelte sich um einen Kollektivvertrag, der die absolute Friedenspflicht mit einem mehrstufigen Schiedsverfahren untermauert.

Dieses Abkommen etablierte den praktisch nur in der Schweiz benützten Ausdruck “Arbeitsfrieden” und förderte für über 50 Jahre den friedlichen Konsens zwischen Arbeitgebenden und -nehmenden.

Linkslastige Gewerkschaftsbosse?

Beat Kappeler, ehemaliger Gewerkschaftsführer und heute Publizist, sagt gegenüber swissinfo: “Die Menschen wechseln lieber ihren Job als mit einer Streikaktion zu protestieren.”

Für Kappeler wurden die Streikwilligen in der Bauindustrie von militanten, linkslastigen Gewerkschaftsführern angetrieben. “Vor sieben oder acht Jahren übernahm eine neue Führungscrew die Gewerkschaft. Sie waren viel linkslastiger und sie stellten sich eine Gesellschaft vor, die mehr kämpferisch und militant handelt”, sagt Kappeler weiter.

SGB-Präsident Paul Rechsteiner betrachtet den Streik dagegen als legitimes Verteidigungsmittel. “Es herrscht eine ausserordentliche Situation – wir müssen eine aussergewöhnliche Antwort auf diese ausserordentliche Provokation geben.”

Rechsteiner fährt weiter: “Im Fall der Post sind nicht nur die Angestellten betroffen. Bedroht ist auch der Service Public.”

Ist der Arbeitsfriede nun am Ende?



Die Gewerkschaften schleifen zwar ihre Messer und die Arbeitgeber scheinen auch nicht gewillt zu sein, nachzugeben. Niemand beurteilt die Situation so explosiv, wie sie gewisse Kreise darstellen wollen.

Peter Hasler: “Die Bedrohung durch Streiks ist nicht so selten. Sie herrscht praktisch alle 2 bis 3 Jahre in der Baubranche. Man kennt sie auch in der grafischen Branche oder im Bereich der öffentlichen Gesundheit, wo letztes Jahr gestreikt wurde. Aber das waren eher Streiks für die Medien.”

Paul Rechsteiner sagt dazu: “Der Arbeitsfriede hält so lange, wie die Gesamtarbeitsverträge respektiert werden.”

swissinfo, Etienne Strebel

November 1918: Der einzige Generalstreik der Schweizer Geschichte wird durch die Armee blutig beendet.
Juli 1937: Arbeitnehmer und Gewerkschaften unterschreiben den “Arbeitsfrieden” für die Metall-Industrie.
1945-1946: Nach der grossen Anzahl Streiks kehrt eine ruhigere Periode ein. Der Arbeitsfriede gilt in praktisch allen Branchen
90er Jahre: Streiks gelten als Ausnahme (1,43 Streik-Tage auf 1000 Arbeits-Tage)

Der Begriff “Arbeitsfriede fehlt in der internationalen Literatur weitgehend. In der Schweiz erlangte er jedoch eine identitätsstiftende Bedeutung.

Dem Arbeitsfrieden werden Werte wie materieller Wohlstand, soziale Sicherheit und politische Stabilität zugeordnet.

Seit den 30er Jahren werden Probleme wie Entlöhnung, Sicherheit am Arbeitsplatz zwischen Arbeitnehmern und -gebern auf dem Verhandlungsweg gelöst. In Fällen, die nicht von einem GAV geregelt werden, darf der Arbeitsfriede gebrochen werden.

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft