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Zum 1. Mai: Arbeitswelt im Umbruch

Streik bei Swissmetal: In Reconvilier standen die Maschinen über einen Monat still. Keystone

Überalterung, Weg zur Wissensgesellschaft, Europäische Integration, Globalisierung: Die Wirtschaft der Schweiz ist im Umbruch. Was heisst das für die Arbeitnehmer?

Renzo Ambrosetti, Co-Direktor der Grossgewerkschaft unia, und Arbeitgeber-Direktor Peter Hasler fühlen gegenüber swissinfo den Puls der Arbeitswelt in der Schweiz.

swissinfo: Der Konflikt um das Swissmetal-Werk in Reconvilier ist noch nicht ausgestanden. Ist der lang beschworene Arbeitsfrieden am Bröckeln?

Renzo Ambrosetti: Dort, wo sich die Arbeitgeber vernünftig geben, sehen wir keine Probleme mit dem Arbeitsfrieden. Das ist oft der Fall. Wenn die Arbeitgeber jedoch viel unnachgiebiger als früher auftreten, ergeben sich Konflikte.

Wir kämpfen gegen Lohneinbussen oder arbeitsvertragliche Schlechterstellung. Wir bleiben korrekte Sozialpartner – doch wenn die Arbeitgeber die unterzeichneten Verträge verletzen, antworten wir entsprechend.

Peter Hasler: Es ist nur die Gewerkschaft unia, die mit dem Feuer spielt. Zahlenmässig spielen diese Streiks zwar keine Rolle, aber die Attacke auf den Arbeitsfrieden schadet dem Ansehen des Werkplatzes Schweiz.

swissinfo: Rekordgewinne für die grossen Unternehmen, Millionensaläre für Top-Manager, während die Löhne der Arbeitnehmer kaum über die Teuerung hinauswachsen. Ist diese Schere gut für das soziale Klima im Land?

R.A.: Sicher erhitzt diese Entwicklung die Geister. Diese raffgierigen Manager sind dieselben, die sich während der Lohnverhandlungen dann um die Konkurrenzfähigkeit ihrer Unternehmen sorgen, während für die Angestellten nur Krümel abfallen.

Die Öffentlichkeit ärgert sich über solche Leute. Sie schaden auch jenen Unternehmensführern, die sich normal verhalten. Das haben inzwischen auch schon gewisse Vertreter der Arbeitgeberschaft gemerkt.

P.H.: Nein, sie ist ganz und gar nicht gut, die seit Jahren andauernden Diskussionen im Volk zeigen das.

swissinfo: Stichwort freier Personenverkehr mit der EU: Hier stimmen Sie überein, dass die flankierenden Massnahmen greifen. Sind die Ängste vor Lohndumping damit vom Tisch?

R.A.: Nein, die Befürchtung ist in keiner Weise beseitigt. Zwar wirken die Massnahmen, doch werden sie nicht überall angewendet. Die Kontrollen stiegen insgesamt um 60%. Aber mehr als die Hälfte davon werden in nur drei Kantonen durchgeführt, im Tessin, in der Waadt und in Zürich.

Wir verlangen deshalb einen Flächen deckenden Vollzug der Kontrollen.

P.H.: Nein, ohne Kontrollen müsste weiter mit Missbrauch gerechnet werden. Mit den bestehenden und eingeleiteten Massnahmen kann man aber Betriebe und Arbeitnehmer beruhigen.

swissinfo: Zu den Themen Sozialwerke und Rentenalter. Es gibt einerseits die Initiative der Gewerkschaften für ein flexibles Rentenalter ab 62, andererseits wollen die Kommission für Konjunkturfragen des Bundes und auch die Arbeitgeber das Rentenalter auf über 65 erhöhen. Wie könnte die goldene Brücke aussehen?

R.A.: Zur Zeit geht nur noch vorzeitig in Pension, wer es sich leisten kann. Das ist nicht gerecht. Es braucht deshalb flexiblere Modelle und an die verschiedenen Angestellten-Kategorien angepasste Lösungen – so wie es unsere Initiative vorschlägt.

Für gewisse Berufsarten sind Alterslösungen denkbar, die über 65 Jahre hinaus gehen.

Anderseits gibt es viele Leute, meistens die weniger verdienenden, die ab 50 bis 55 Jahren aus dem Arbeitsmarkt ausgeschlossen werden. Hier macht es keinen Sinn, eine Erhöhung des Rentenalters zu fordern.

P.H.: Eine Flexibilisierung des Rentenalters über die heutigen Möglichkeiten hinaus, die parallele Flexibilisierung der 2. Säule, eine umfassende Altersstrategie, die das partielle Weiterarbeiten über 65 hinaus erlaubt und weitere Massnahmen könnten das starre Rentenalter ablösen.

65 wäre dann noch ein Berechnungszeitpunkt für die Rente, der später einmal ohne grössere Probleme angehoben werden könnte.

swissinfo: Im Zug der Überalterung nimmt die Zahl der aktiven Bevölkerung in ein paar Jahren ab, die Zahl der Rentner steigt. Ist ein vorzeitiger Rentenantritt, wie dies die Gewerkschaften fordern, unter diesen Vorgaben realistisch. Und wenn ja, zu welchem Preis?

R.A.: Die Leistungen können über Lohnprozente oder über Mehrwertsteuer-Prozente finanziert werden. Dennoch sollte die Solidarität zwischen den Generationen zumindest teilweise erhalten bleiben.

Wobei auch der freie Personenverkehr und die Präsenz ausländischer Arbeitenden mithelfen, unsere soziale Sicherheit zu unterstützen.

P.H.: Die Gewerkschaftsinitiative widerspricht jeder Vernunft. Wenn die Menschen gesünder älter werden, soll man ihnen das aktive Alter nicht verkürzen.

Finanziell kann sich die AHV ein solches Abenteuer nicht leisten. Der AHV-Fonds ist heute schon unter dem gesetzlichen soll einer Jahresausgabe. Alle Fachleute und auch internationale Gremien raten dazu, alle Anreize zum vorzeitigen Altersrücktritt abzubauen.

swissinfo: Es gehört schon fast zum guten Ton, den Wert älterer Mitarbeiter zu betonen. Bloss: Wie kommt die Botschaft zu den Personalverantwortlichen in den Unternehmen? Sie stellen ja nach wie vor mehr junge Menschen an.

R.A.: Es braucht mehr Druck von Seiten der Öffentlichkeit, damit die Unternehmer ihre soziale Verantwortung wahrnehmen. Es geht nicht an, dass Unternehmen ihre älteren Arbeitnehmenden den Invaliden- und Arbeitslosen-Versicherungen überantworten.

Ich muss aber auch sagen, dass seitens der Unternehmen den Älteren seit einiger Zeit mehr Beachtung geschenkt wird.

P.H.: Es gibt auch mehr junge Menschen, die man anstellen kann. Wir werden demnächst eine “Altersstrategie” bekannt geben und hoffen auf eine lebhafte Diskussion in den Betrieben. Die Botschaft wird bei den Personalchefs wohl ankommen, die Umsetzung dann aber noch einiges anspruchsvoller sein.

Immerhin hat ein gewisses Umdenken schon stattgefunden, als sich zeigte, dass Kunden und Lieferanten ihre älteren Bezugspersonen vermissten und dass der Know-how-Verlust teilweise gravierend ausgefallen ist.

swissinfo: Kennen Sie Arbeitgeber, die ältere Angestellte vorbildlich fördern?

R.A.: Konkrete Beispiele habe ich nicht. Doch auf der Ebene arbeitgeberischer Denkansätze beginnt sich die Idee als Tendenz abzuzeichnen.

P.H.: Die Migros mit dem Midlife Power Programm, Kader 50plus der Bundesverwaltung, Weiterbildung für Ältere bei Siemens, Mentoring-Programme von SBB, Novartis, Post, ABB, EMPA, SUVA, die Alters-Teilzeitarbeit bei der Credit Suisse, Santé Plus von Manor und andere.

swissinfo-Interviews: Renat Künzi und Marzio Pescia

Unia ist die grösste Gewerkschaft in der Schweiz. Sie kam 2005 durch eine Fusion von verschiedenen Branchen-Gewerkschaften zu Stande. Heute zählt sie mehr als 200’000 Mitglieder.

Unia ist in rund 60 Berufszweigen aktiv, die in 4 Sektoren gruppiert sind: Bau, Gewerbe, Industrie und Dienstleistungen.

Den Vorsitz über Unia teilen sich Renzo Ambrosetti und Vasco Pedrina.

Peter Hasler ist noch bis Ende Mai Direktor des Schweizerischen Arbeitgeber-Verbands. Dieser sind mehr als 70 sektorielle oder regionale Verbände angeschlossen.

Der Verband geht auf das Jahr 1908 zurück und hat seinen Sitz in Zürich. Zusammen mit economiesuisse setzt er sich ein für die Schweizer Wirtschaft und ihre Konkurrenz-Fähigkeit.

Traditionell ergibt sich am Tag der Arbeit die Gelegenheit, über den Zustand der Arbeitswelt zu reflektieren.
Das vergangene Jahr war von Konflikten zwischen Arbeitgebern und –nehmern geprägt.
Die Streiks der Belegschaft von “La Boillat” in Reconvilier, zuerst Ende 2004, dann im Januar 2006, gehörten zu den ausgeprägtesten Konflikten der letzten Jahre.

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