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“Der Fluch des Öls”

Die Krisenlage in Libyen hat einen massiven Anstieg des Ölpreises bewirkt. Keystone

Die Krise in Libyen provoziert einen Preisanstieg beim Öl, doch die erdölexportierenden Länder ziehen eine Erhöhung der Produktion in Betracht. Gemäss dem Experten Gilles Carbonnier sei es allerdings schwierig, die libysche Produktion ganz zu ersetzen.

Gemäss den Betreibern der Transport-Schiffgesellschaften in London sei die Kommunikation mit den libyschen Ölhäfen am Dienstag gekappt worden. Die libysche Krise hat auch einen Anstieg des Rohölpreises provoziert und den Sturz der asiatischen und europäischen Börsen.

Der Direktor der Zeitschrift Revue internationale de politique de développement, Gilles Carbonnier, Professor am Institut de Hautes Études Internationales et du Développement (IHEID), hat an den Verhandlungen der Uruguay-Runde der Welthandels-Organisation (WTO) teilgenommen und gehört der Generaldirektion des Internationalen Roten Kreuzes an. Die Frage der Verwaltung der Ölressourcen ist eine seiner Spezialitäten.

swissinfo.ch: Libyen ist der erste wichtige Ölproduzent, der von den Revolten in diesem Frühling erschüttert wird. Worauf müssen wir uns vorbereiten?

Gilles Carbonnier: Wir beobachten einen schnellen Preisanstieg, der mit der Nervosität der Marktakteure zusammenhängt. Die Marktteilnehmer gehen von möglichen Schwierigkeiten der Beschaffung des Öls aus. Sie nehmen den Preisanstieg vorweg und beschleunigen so eine Erhöhung der Kurse. Die politische Situationen, in Libyen wie in der ganzen Region, werden zeigen, ob sich dieser Anstieg bestätigt, oder ob eine Entspannung eintritt.

Die grosse Nervosität der Marktteilnehmer lässt sich erklären. Der Ölmarkt ist eine “Just-in-Time”- Angelegenheit, praktisch ohne Vorräte mit einer hohen Nachfrage und mit Produktionsanlagen, die voll arbeiten. Ein Unterbruch der Produktion eines so wichtigen Produzenten wie Libyen kann sofort einen Mangel hervorrufen, und dies hat einen Einfluss auf den Preis. In der Tat ist heute kein anderer Produzent in der Lage, so viel mehr zu produzieren, um die Produktion Libyens zu ersetzen.

Für ein Land wie die Schweiz, das Öl importiert, zeigt die Situation, dass es dringend nötig ist, dass ein Staat das Öl und Gas aus verschiedenen Quellen bezieht. Man muss auch die Anstrengungen verstärken, die Energiequellen zu diversifizieren, insbesondere die erneuerbaren Energien.

Was man heute in Libyen sieht, könnte in einigen Jahren auch mit dem Uran im Niger passieren. Niger ist der drittgrösste Produzent. Mit einem islamisierten Maghreb könnte es schon Probleme geben mit dem Bezug der Energie.

swissinfo.ch: Wann könnte die Situation aufgrund der Revolten in den erdölproduzierenden Ländern kritisch werden für die Beschaffung der Energie?

G.C.: Die Situation könnte kritisch werden, wenn die Ölproduktion in Libyen wirklich total gestoppt wird. Die strategischen Vorräte der importierenden Länder erlauben es, während einer kurzen Zeit, eine solche Situation zu bewältigen. Aber wenn die Situation anhält, und wenn sie auf Algerien übergreifen sollte, wird es wirklich kritisch.

Wenn der Umsturz Saudiarabien erreichen würde, den Hauptproduzenten von Öl, käme es zu einer wirklichen Ölkrise. Sie wäre so gross, dass wir die beiden Ölschocks 1973 und 1979 nur als kleine Wellen eines grossen Tsunamis betrachten würden.

swissinfo.ch: Ob Gaddafi im Amt bleibt, oder ob er gestürzt wird: Ändert dies etwas an der Beschaffung des Öls?

G.C. Das Öl befindet sich in Libyen. Ob es das Regime Gaddafis, eine demokratisch gewählte Regierung oder eine Übergansphase ist, die Libyer sind zu jeder Zeit daran interessiert, ihr Öl zu verkaufen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine neue Regierung die Lieferungen stoppen würde oder das Angebot für die Kunden grundlegend verändern würde.

Das am meisten verändernde Szenario für den Markt wäre eine gewaltsame und instabile Übergangsphase zwischen dem autokratischen Regime und einer etablierten Demokratie, mit Unsicherheiten in Tripolis und auch in den produzierenden Regionen, wenn das ausländische Personal abgezogen würde und wenn es Schwierigkeiten gäbe mit der Bedienung der Förderungsanlagen.

swissinfo.ch: Wenn Gaddafis Regime gestürzt wird, stellt sich die Frage, wem die Fördereinrichtungen gehören. Gehören sie dem Staat? Was wäre die beste Lösung?

G.C.: Das ist eine ideologische Frage. Ich stelle fest, dass es in allen Produktionsländern die Tendenz gibt, einen öffentlichen Sektor im Staat einzurichten und zu verstärken und mit den westlichen Ländern partnerschaftlich zusammenarbeiten, in Zukunft auch mit China und Malaysia. Diese grossen Gesellschaften haben genug Technologie und Know-how.

Anders ausgedrückt, mit Ausnahme der neuen Ölproduzenten wie Niger oder Ghana bilden sich mehr und mehr assimilierbare Staaten im Nahen Osten, wo die privaten westlichen Ölgesellschaften wie ExxonMobile, Total, Shell, Chevron oder grosse chinesische Firmen arbeiten können, ohne eine staatliche Instanz zu konsultieren. Ich kann mir schlecht vorstellen, dass die aktuellen Ereignisse diese Tendenz verändern.

swissinfo.ch: Wie passen die Forderung nach Demokratie, die Ölproduktion und die Wirtschaft zusammen?

G.C.: In den Ölländern hat man oft Staaten, die ausschliesslich vom Öl leben. Man hat manchmal in diesem Zusammenhang auch vom “Fluch des Öls” gesprochen. Eine Seite von diesem Phänomen ist sehr oft, dass, wer Öl sagt, automatisch von autokratischen, wenig demokratischen Regimen spricht. Diese Regimes halten sich an der Macht, indem sie den Verdienst aus dem Öl aus politischen Gründen an die mächtigsten Gruppen im Land verteilen.

In den ölproduzierenden Ländern hat es der Staat nicht nötig, eine Verwaltung einzusetzen, die Steuern von den Bürgern einziehen würde. Der Staat lebt ausschliesslich von der “Ölrente”, die oft von ausländischen Gesellschaften ausgeschüttet wird. Anders ausgedrückt, der Staat muss sich ausser den Ölgesellschaften um niemanden kümmern. Der Staat ist den Bürgern keine Rechenschaft über das Budget schuldig, wie in unseren Demokratien.

In diesem Sinn bin ich überzeugt, dass eine Demokratisierung dieser Länder langfristig ihrer wirtschaftliche Entwicklung förderlich ist. Interessengruppen jenseits der Ölbranche, die übrigens wenig Arbeitskräfte braucht, werden sich zu Wort melden, zu Gunsten der Landwirtschaft, der Dienstleistungsbranche, usw. Die Vielzahl der Branchen wird eine grössere Diversifizierung der Wirtschaft bewirken und auch die Wirtschaftspolitik verändern.

Das Beispiel von Norwegen ist sehr aussagekräftig. In den 70er-Jahren hat Norwegen angefangen, Öl zu fördern. In der Demokratie wurde lange über die Verwendung des Geldsegens aus dem Öl diskutiert. In Norwegen wurde das Ölgeld dann eingesetzt zur Verstärkung der wirtschaftliche Entwicklung in anderen Sektoren sowie zur langfristigen Schaffung eines Fonds für die zukünftigen Generationen der “Nach-Öl-Zeit”.

Die Aufstände in der arabischen Welt und insbesondere in Libyen haben die asiatischen und europäischen Börsen ins Zittern gebracht, mit einem Kurstaucher am Dienstag, und die Rohölpreise in die Höhe getrieben

Tokio (-1,78%) und Hongkong (-2,11%) waren bei Börsenschluss auf Sinkflug. Paris (-1,54%), London (-0,50%) und Zürich (-1,05%) verzeichneten bis am Dienstagmittag bedeutende Rückgänge.

Der Ölpreis ist seit 2008 aufs höchste Niveau angestiegen. Am Dienstag kostete ein Fass Brent aus der Nordsee 106,80 US-Dollar, am Dienstagmorgen gar 108,57 US-Dollar, ein Dollar mehr als der Rekordpreis 2008.

Libyen stellt 2% der weltweiten Ölproduktion her und 0,5% der weltweiten Erdgasproduktion. Die Region zwischen Algerien und Iran produziert 36% der weltweiten Ölproduktion.

Rund 3,3% der Ölweltreserven und 0,8% der Weltgasreserven liegen laut Statistik des Ölkonzerns BP in Libyen.

2008 importierte die Schweiz 75% ihres Erdöls aus Libyen, im Wert von 3,3 Milliarden SFr. Heute sind es 11%.

Seit der Geiselkrise zwischen Bern und Tripolis importiert die Schweiz Öl hauptsächlich aus Aserbaidschan und Kasachstan.

Die Schweizer Importe aus Libyen, fast ausschliesslich Öl, betrugen 2010 lediglich noch 485 Millionen.

Die Schweiz befürchtet wegen der Libyen-Krise keine Versorgungsengpässe mit dem Schwarzen Gold.

(Übertragung aus dem Französischen: Eveline Kobler)

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