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Schweiz: Wenn ein Viertel des Einkommens in die Krankenversicherung fliesst

Krankenkasse, die aus einem Portemonnaie gezogen wird.
Keystone, Christian Beutler

Das Tessin ist der Schweizer Kanton mit den niedrigsten Löhnen. Zugleich belasten die Krankenkassenprämien das Haushaltseinkommen der Familien besonders stark. Gemäss Umfragen ist die Unterstützung zu den beiden Volksinitiativen zur Begrenzung der Gesundheitskosten, die am 9. Juni zur Abstimmung kommen, im Südkanton am grössten.

«Wir zahlen immer mehr, doch die Leistungen umfassen immer weniger.» Das ist der Tenor in Gesprächen zur Krankenversicherung, die wir mit zwei Familien im Tessin geführt haben. Die Familien müssen einen immer grösseren Anteil ihres Einkommens für die Krankenversicherung aufwenden. 

Anna (Name von der Redaktion geändert) und ihr Mann haben drei Kinder, von denen zwei noch im Teenageralter sind. Das älteste Kind ist bereits aus dem Haus, berufstätig und unabhängig.

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Sie leben im Kanton Tessin, der von den jüngsten Prämienerhöhungen besonders stark betroffen war. Der Aufschlag für die Prämien 2024 betrug 10,5 Prozent (gegenüber einem landesweiten Mittel von 8,3 Prozent).

Die Prämien beziehungsweise die Aufwendungen für die Gesundheitskosten verschlingen einen grossen Teil des verfügbaren Einkommens: «Wir verwenden zirka 25 Prozent unserer Einnahmen, um die Prämien für alle zu bezahlen», sagt Anna.

Und dies, obwohl sie Policen mit der höchsten Franchise abgeschlossen haben. Das heisst: Bis 2500 Franken bezahlen sie alle Behandlungskosten aus der eigenen Tasche. Erst danach springt die Versicherung ein. Neben der obligatorischen Grundversicherung haben sie auch noch eine Zusatzversicherung.

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eine Person nimmt die Krankenkassenkarte aus ihrem Portemonnaie

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Prämien-Entlastungs-Initiative: Darum gehts

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Am 9. Juni stimmt das Volk über eine Initiative ab, welche die Prämienzahler:innen entlasten soll. Was auf dem Spiel steht.

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Teresa (Name von der Redaktion geändert) und ihr Ehemann arbeiten beide in Teilzeit. Sie haben zwei erwachsene Kinder, die beide studieren. Der Sohn verdient seinen Lebensunterhalt inzwischen mit verschiedenen Jobs, die Tochter hingegen ist immer noch auf den Unterhalt durch die Eltern angewiesen.

«Ich schätze, dass wir etwa ein Drittel unseres Einkommens für die Krankenversicherung ausgeben», erklärt sie.

Anna und Teresa gehören zu jenem Teil der Tessiner Mittelschicht, die zu viel verdient, um staatliche Unterstützung zu erhalten, aber zu wenig, um den Anstieg der Lebenshaltungskosten problemlos verkraften zu können.

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Laura Riget, Co-Präsidentin der Sozialdemokratischen Partei (SP) des Tessins, sagt: «In den letzten 20 Jahren sind die Prämien explodiert, vor allem im Vergleich zur Entwicklung der Löhne und Renten.»

Die SP hat eine der beiden Volksinitiativen zu den Gesundheitskosten lanciert, über die das Schweizer Stimmvolk am 9. Juni abstimmt. Diese Initiative fordert, dass die Krankenkassenprämien 10 Prozent des verfügbaren Einkommens nicht überschreiten dürfen (Prämienentlastungs-Initiative).

«Immer mehr Familien aus der Mittelschicht haben Mühe, ihre Prämien zu bezahlen, weil sie keine Zuschüsse erhalten», so Riget. Das aktuelle System zur Prämienverbilligung mit staatlichen Zuschüssen helfe den Schwächsten der Gesellschaft, aber nicht der unteren Mittelschicht.

Die Prämienentlastungs-Initiative (Krankenkassenprämien eines Haushalts dürfen gemäss dieser Initiative nicht mehr als zehn Prozent des verfügbaren Einkommens ausmachen) ist nur eine von zwei Initiativen zu den Gesundheitskosten. Sie löst im Vorfeld der Abstimmung vom 9.Juni die meisten Diskussionen aus.

Doch auch die zweite Volksinitiative – die so genannte Kostenbremsen-Initiative – wird hart diskutiert. Lanciert wurde sie von der Mitte-Partei (ehemals CVP), und sie will den unaufhaltsamen Anstieg der Gesundheitskosten bekämpfen.

Zwischen 2012 und 2022 sind die Kosten der obligatorischen Krankenversicherung pro Kopf um 31 Prozent, die Nominallöhne aber nur um 6 Prozent gewachsen. Gemäss dieser Initiative sollen künftig die Lohnentwicklung und das Wirtschaftswachstum vorgeben, wie stark die Kosten der obligatorischen Krankenversicherung maximal steigen dürfen.

Der Bund muss zusammen mit den Kantonen, den Krankenversicherern und den Leistungserbringern Massnahmen ergreifen, damit das Kostenwachstum im zulässigen Rahmen bleibt.

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Die Gegner der Vorlagen warnen davor, dass ein Ja zu den beiden Gesundheits-Initiativen eine nicht tragbare Belastung der öffentlichen Finanzen bedeuten würde.

So sagt der Tessiner Nationalrat Paolo Pamini von der rechtskonservativen SVP: «Die Prämienentlastungsinitiative würde für Bund und Kantone erhebliche Kosten verursachen, die auf mehrere Milliarden Franken jährlich geschätzt werden.»

Die Initiative berücksichtige die Komplexität des Gesundheitswesens nicht, die sich von Kanton zu Kanton stark unterscheide. Die SVP hat daher die Nein-Parole ausgegeben. Laut Pamini müssten im Falle einer Annahme Steuern erhöht oder Kürzungen in anderen Bereichen vorgenommen werden, um die Zusatzausgaben zu decken.

In Bezug auf die Kostenbremse-Initiative erklärt Pamini: «Diese berücksichtigt Faktoren wie die Alterung der Bevölkerung und den medizinischen Fortschritt nicht, die zu einem Anstieg der Gesundheitskosten führen.»

Ausserdem könnte eine an die Lohnentwicklung und das Wirtschaftswachstum gekoppelte Kostenbremse dazu führen, dass eine qualitativ hochwertige Gesundheitsversorgung nicht mehr gewährleistet werden könne.

Die Leistungen würden reduziert, was den Zugang zu notwendigen Behandlungen beeinträchtigen und die gesundheitliche Versorgung der Bevölkerung insgesamt verschlechtern würde.

Mehr Zuschüsse

Für die Versicherungsgesellschaften würde ein Ja zur Prämienentlastungsinitiative nichts verändern. «Wenn die Prämien mehr als 10 Prozent des verfügbaren Einkommens ausmachen, kommen die staatlichen Subventionen ins Spiel. Wir fordern in diesem Zusammenhang ein stärkeres Engagement des Bundes, da derzeit die Kantone den grössten Teil der Prämienverbilligungen tragen», sagt Riget.

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Dies bestätigt Salvatore Simone, Leiter für Gesundheitsmanagement des Tessiner Gesundheits- und Sozialdepartements (Decs): «Unser Kanton gehört zu den Kantonen, die landesweit die meisten Prämienverbilligungen gewähren.»

Der Grund dafür sei eine Politik, welche die Belange der wirtschaftlich schwächeren Bevölkerungsgruppen besonders stark berücksichtige. Tatsächlich profitieren im Tessin rund 110’000 Personen (Stand 2023) von einer staatlichen Reduktion der Krankenkassenprämien.

Dies entspricht rund einem Drittel der Bevölkerung (gemäss Volkszählung von 2019 zählt das Tessin 353’343 Einwohner:innen). Dies bedeutet für den Kanton jährliche Ausgaben in Höhe von weit mehr als 10 Millionen Franken (2022 waren es genau 20,5 Millionen, die Zahlen für 2023 liegen noch nicht vor).

Die vor kurzem veröffentlichte Erhebung zur Lohnentwicklung 2023Externer Link des Bundesamtes für Statistik hat zudem einmal mehr bestätigt, dass die Tessiner Medianlöhne die niedrigsten in der Eidgenossenschaft sind.

Und genau die Kombination aus niedrigem Einkommen und immer höheren Prämien führt dazu, dass immer mehr Menschen auf Zuschüsse angewiesen sind, um ihre Prämien überhaupt noch bezahlen zu können.

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Anna ist allerdings der Ansicht, dass es immer komplizierter und schwieriger wird, Prämienzuschüsse des Kantons zu erhalten: «Dieses Jahr habe ich nicht einmal einen Antrag gestellt. Als ich die Liste der erforderlichen Dokumente sah, habe ich aufgegeben. Es sind einfach zu viele.»

Neben der Bürokratie gibt es auch technische Hürden. «Für meine Generation ist es nicht immer einfach sich in der neuen Welt zurecht zu finden. Man muss lernen, wie man eine App benutzt, verstehen, wie elektronische Rechnungen funktionieren, und lernen, wie man die eingegangenen Rechnungen weiterleitet», gibt Anna zu bedenken.

Und da sie nach 25 Jahren beschlossen habe, die Krankenkasse zu wechseln, sei dieses Jahr alles noch komplizierter.

Die Krankenversicherung ist in der Schweiz sowohl für Erwachsene als auch für Kinder obligatorisch. Es handelt sich um eine Pro-Kopf-Versicherung: Für jedes Familienmitglied wird in der Grundversicherung eine monatliche Prämie bezahlt.

Bestimmte Leistungen werden von der Grundversicherung nicht abgedeckt, daher gibt es die Möglichkeit, eine Zusatzversicherung abzuschliessen.

Derzeit gibt es mehrere Modelle für die Grundversicherung, wobei sich die Monatsprämie je nach Modell ändern kann. Das gängigste und teuerste Modell besteht in der freien Arztwahl (ein Patient kann sich selbst eine/n Fachärztin/Facharzt aussuchen), gefolgt vom «Hausarztmodell» (die Hausärztin oder der Hausarzt überweist die Patienten an Fachärzte).

Zudem kann man einmal pro Jahr die Krankenkasse wechseln (bei der Grundversicherung). Wenn die Versicherungsgesellschaften im Herbst die Prämien für das kommende Jahr ankündigen, können die Kundinnen und Kunden eine andere Krankenkasse wählen, die ihnen günstigere Lösungen anbietet.

Von diesem Recht machen viele Versicherte Gebrauch. Für die verschiedenen Zusatzversicherungen gelten spezifische Regeln und Fristen.

Die Versicherung deckt jedoch die entstandenen Kosten nicht zu 100 Prozent: Die Versicherten müssen je nach Police eine Franchise bezahlen (zwischen einem Minimum von 300 und einem Maximum von 2500 Franken). Sobald die Franchise aufgebraucht ist, bezahlen die Versicherten noch zehn Prozent der Gesundheitskosten. Dieser sogenannte Selbstbehalt ist auf 700 Franken (Kinder 350 Franken) pro Jahr begrenzt.

Die Kosten variieren je nach dem gewählten Versicherungsmodell, gewählter Franchise, dem Alter der versicherten Person und dem Kanton. Für das folgende Beispiel von Monatsprämien wurde Bellinzona als Wohnort gewählt:

Minderjährige (0-17 Jahre): 100 bis 160 Franken

Junge Erwachsene (18-25 Jahre): 230 bis 520 Franken

Erwachsene (26 Jahre und älter): 350 bis 690 Franken

Die Gründe für den Kostenanstieg im Tessin

Das Tessin ist einer der Kantone, in dem die Prämien in den letzten Jahren am stärksten gestiegen sind (20 Prozent allein in den letzten beiden Jahren). Wie erklärt sich das?

«Die steigenden Prämien spiegeln die steigenden Kosten im Gesundheitswesen wider», sagt Salvatore Simone, «und diese gehören im Tessin pro Kopf und Einwohner:in zu den höchsten der Schweiz.»

Er benennt verschiedene Faktoren, die diese Entwicklung beeinflussen, aber vor allem zwei: Im Kanton Tessin gibt es sehr viele Leistungserbringer im Gesundheitswesen, ausserdem hat das Tessin den prozentual höchsten Anteil an Versicherten über 65 Jahren.

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Umzug ennet des Gotthards oder nach Italien

Wundermittel zur Änderung dieser Situation gibt es nicht. Eine Eindämmung der Kostenexplosion scheint unmöglich zu sein. Deshalb wird nach alternativen Lösungen gesucht, wie zum Beispiel mittels der Vorschläge, die am 9. Juni zur Abstimmung stehen.

Wie stehen die Chancen für eine Annahme der Vorlagen? Das ist schwer zu sagen. Tatsache ist aber, dass die Schweizer Stimmbevölkerung bei den letzten Urnengängen stets radikale Änderungen des Krankenversicherungssystems abgelehnt hat.

Nein hiess es zum Vorschlag einer Einheitskrankenkasse und Nein zu einer öffentlichen Krankenversicherung. Und diese Ablehnungen erfolgten, notabene, in einem Land, in dem die Krankenversicherung obligatorisch ist.

«Ich verstehe nicht, warum ich keine Wahl zwischen einer öffentlichen und einer privaten Krankenkasse habe, wie es in vielen Ländern der Fall ist, insbesondere da ich selten zum Arzt gehe», sagt Anna.

Und Teresa versteht nicht, «warum die Prämie nicht mit den Steuern verrechnet oder direkt vom Gehalt abgezogen wird, wenn sie schon obligatorisch ist.» Das würde für sie im Grunde zwar wenig ändern, aber psychologisch wäre die Prämienlast vielleicht leichter zu akzeptieren.

Die beiden Mütter berichten, dass sie Arztbesuche so weit wie möglich vermeiden, weil sie die Kosten nicht tragen können. Nicht nur: Sie erwägen sogar einen Umzug in einen Kanton mit niedrigeren Prämien. Das wäre natürlich ein grosses Opfer, denn sie müssten Freunde, Verwandte und vertraute Orte zurücklassen, aber dieses Szenario scheint von Jahr zu Jahr wahrscheinlicher, «um weiterhin einen anständigen Lebensstil führen zu können».

Anna denkt sogar an eine noch radikalere Lösung: Ihr Mann ist italienischer Abstammung, und sobald die Kinder selbständig sind, wird sich das Paar überlegen, die Schweiz zu verlassen und über die Grenze nach Italien zu ziehen. Dort gibt es ein öffentliches Gesundheitssystem, das durch Steuern finanziert wird.

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Debatte
Gastgeber/Gastgeberin Katy Romy

Abstimmungen vom 9. Juni: Wie kann der Anstieg der Gesundheitskosten gebremst werden?

Am 9. Juni zielen gleich zwei Initiativen darauf ab, die Gesundheitskosten zu deckeln. Ihre Meinung dazu interessiert uns!

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