Blaise Cendrars: ein «Aussenseiter» in der Pléiade

Die "Bibliothèque de la Pléiade", eine prestigeträchtige Buchreihe des französischen Verlags Gallimard, empfängt Blaise Cendrars. Zwei Bände fassen die "Oeuvres autobiographiques complètes" des anarchistischen Schweizer Schriftstellers und Abenteurers zusammen. Wie kommt sein Werk an? Eine kleine Reise um die Welt.
Blaise Cendrars ist nicht der erste Schweizer Publizist, der bei Gallimard, einem der einflussreichsten Verlagshäuser in Frankreich, zu Ehren kommt. Zuvor waren es Benjamin Constant, Jean-Jacques Rousseau und Charles-Ferdinand Ramuz – ein Autorenkreis, von dem sich der nicht klassifizierbare Cendrars ein wenig unterscheidet.
Wo lässt er sich einordnen? Dem Ruf nach ist er zuerst ein Dichter: Der Mann mit der «Transsibirischen Eisenbahn». Sein weltweites Renommee fusst auf dieser von Sonia Delaunay illustrierten Prosa.
Aber er ist auch Romancier, wenn auch ein extravaganter, mit einer Passion für eine sehr eigenartige Schreibweise, die ihn veranlasst, zwischen dem Beginn und dem Ende des Romans mehrere Jahre verstreichen zu lassen. «La Main coupée», den zweiten Band seiner Memoiren, hat er 1917 begonnen und 1946 zu Ende geschrieben.

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Schwieriges «Objekt» für die Kritik
«Cendrars braucht Zeit, er ist ein schwieriges ‹Objekt› für die Kritik, die sich von der Diskontinuität der literarischen Produktion verwirren liess. Die Experten haben lange gebraucht, um Cendrars als Autor eines grossen Werks zu erkennen», sagt Claude Leroy, der diese Ausgabe der «Oeuvres autobiographiques complètes» von Cendrars leitet.
«Noch vor 20 Jahren wäre der Einzug des Schriftstellers in diese bekannte Sammlung unvorstellbar gewesen. Heute scheint dies selbstverständlich zu sein, weil sein Werk, das damals als wankelmütig betrachtet wurde, inzwischen Kohärenz angenommen hat.»
Die Öffnung der Archive von Blaise Cendrars in Bern zu Beginn der 1980er-Jahre hat viel dazu beigetragen. Sie hat den Forschern verschiedenster Herkunft eine akademische Arbeit ermöglicht, die zur Wiederbelebung des Schriftstellers in verschiedenen Ländern Europas, Afrikas und Amerikas beigetragen hat. Cendrars ist dort unterschiedlich bekannt. Sein Erfolg hängt nicht nur von der jeweiligen Kultur, sondern auch von den Übersetzungen seines Werks ab.
«Das frankophone Schwarzafrika hat ihn vor allem dank seiner 1921 publizierten «Anthologie nègre» entdeckt. Das Initialwerk führt die afrikanischen Erzählungen zusammen. Heute könnte das Buch als veraltet erscheinen, aber zur Zeit seiner Herausgabe war es so wichtig wie die Entdeckung der ‹Art nègre› durch die Kubisten», sagt Claude Leroy.

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Wenn Blaise Cendrars über sich selber spricht
Für die Amerikaner ein Aussenseiter
Die Übersetzungen der Texte von Cendrars in den USA sind unvollständig oder ungenügend und lassen ein Gefühl der Frustration entstehen. Von seinem Lebewesen her hatte der libertäre Geist Mühe, in einem puristischen Land Abnehmer zu finden.
«Dank eines Literaturagenten aus Nordamerika konnte Cendrars seinen ersten Roman «Gold» auf Englisch publizieren, erzählt Christine le Quellec Cottier, Direktorin des Centre d’études Blaise Cendrars in Lausanne und Bern. «Die Schwierigkeiten entstanden mit ‹Les Mémoires› und vor allem mit ‹Moravagine‹. In diesen Werken haben die Amerikaner Gewalt, eine gewisse Anarchie und einen an die russische Revolution gebundenen Nihilismus sehen wollen. Deshalb vergingen mehrere Jahre, bis der Schweizer in den USA anerkannt wurde.»
«Eine mässige Anerkennung», präzisiert Claude Leroy, der vermutet, dass Cendrars in Amerika bis heute nicht den Platz gefunden habe, den er verdient hätte. «Er wird dort immer noch als Aussenseiter wahrgenommen – abgesehen von gewissen Untergrund-Milieus, wo er heute eine Leserschaft hat, die ihn bewundert. Die amerikanische Punkmusikerin Patti Smith, zum Beispiel, beruft sich auf ihn.»
Cendrars ist nicht immer politisch korrekt. Das ist das Mindeste, was man über ihn sagen würde, wenn er heute lebte. «Sein Hass auf die ‹Schwoben›, den er in seinen Memoiren («La Main coupée», «J’ai tué») wiederholt zum Ausdruck brachte, hat seinen Erfolg in Deutschland, wo die Mehrheit seiner Texte übersetzt wurde, nicht begünstigt», sagt Claude Leroy.
Der Schweizer Dichter, Romancier und Reporter Frédéric-Louis Sauser schrieb unter dem Pseudonym Blaise Cendrars.
1887 Geburt in La Chaux-de-Fonds
1894 – 1896: lebt die Familie in Neapel
1902: Ecole de Commerce in Neuenburg
1904 – 1907: Aufenthalt in St. Petersburg, wo er für den Schweizer Uhrenhersteller Leuba arbeitet
1911: Reise nach New York, wo er Mühe bekundet, sich ans amerikanische Leben anzupassen
1914: lässt er sich von der französischen Armee anwerben. Im Krieg verliert er seinen rechten Arm
1916: erwirbt er die französische Staatsbürgerschaft
1924 – 1927: unternimmt er drei lange Reisen in Brasilien
1939 – 1940: wirkt er als Korrespondent für die britische Armee
1943 – 1949: arbeitet er an seinen «Memoiren»
1950: Kehrt er nach Paris zurück, wo er sich schon zuvor mehrmals aufhielt
1960: «Commandeur» der Ehrenlegion
1961: stirbt er in Paris
Ein genialer Dichter für die Belgier
Ganz anders ist die Wahrnehmung im frankophonen Europa. «Zu Beginn der 1920er-Jahre macht er sich in Belgien einen Namen, auch mit Hilfe von Robert Guiette, einem jungen Brüsseler Intellektuellen, der ihn bewundert, ihn mehrmals einlädt und als Poet der Avant-Garde ins belgische literarische Milieu einführt», sagt Christine Le Quellec Cottier.
Und in Frankreich? Dort fühlte sich Cendrars so wohl, dass er sich während des Ersten Weltkriegs zum Scherz in der französischen Armee einspannen liess. Das kostete ihn den rechten Arm (er wurde amputiert) und die Anerkennung der Schweizer. Erst 1987, an seinem hundertsten Geburtstag, erfuhr er von dieser Schweiz, die er immer geliebt hatte, erneut Anerkennung. Der Reiselustige sah in ihr die ganze Schönheit dieser Erde.
Dem grossen Patron der französischen Presse, Pierre Lazareff, der ihn eines Tages gebeten hatte, eine Reportage über Helvetien zu schreiben, hatte er geantwortet: «Ich werde Dir ein Land enthüllen, das viel eigenartiger ist als Französisch Polynesiens, Amazonien oder Zentralafrika.»
Aber Cendrars wurde krank und die Reportage wurde nie mehr geschrieben.
Blaise Cendrars. Oeuvres autobiographiques complètes, Band I und II. La Pléiade, Gallimard.
Die Edition der Gedichte, Romane und Erzählungen in La Pléiade ist für 2015-2016 vorgesehen.
Blaise Cendrars, Robert Guiette, 1920-1959 und Blaise Cendrars, Henry Miller, 1934-1959. Zwei Bände mit Briefwechseln, herausgegeben vom Verlag Zoé in Genf.
Gespräch mit Blaise Cendrars, Auszüge aus den Archiven des Westschweizer Radios, auf zwei CD herausgegeben vom Verlag Zoé.
Am 10. April 2013 lanciert der Verlag eine neue Buchreihe unter dem Titel «Cendrars en toutes lettres».
Was ist das Ziel? Antworten von Caroline Coutau, Direktorin des Genfer Verlagshauses:
«Vor anderthalb Jahren habe ich ein Manuskript von Cendrars Briefen erhalten, worauf ich mit Cendrars Tochter sofort Kontakt aufgenommen habe, um die Rechte zu erhalten. Bei dieser Gelegenheit hat sie mir die Idee dieser Reihe anvertraut: die Briefwechsel ihres Vaters in mehreren Bänden zu publizieren.»
(Übertragung aus dem Französischen: Peter Siegenthaler)

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