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Egoismus statt Gemeinwohl: Der neue Trend an der Urne?

«Jetzt bin ich mal dran» – warum das Stimmvolk egoistischer wird
«Jetzt bin ich mal dran» – warum das Stimmvolk egoistischer wird Keystone

Beim Ausfüllen der Stimmzettel wird immer mehr auf die eigenen Interessen geschaut. Politologe Lukas Golder sieht darin einen Trend, der zum heutigen Zeitgeist passt.

Ob vergünstigte ÖV-Abos für Stadtzürcherinnen und Stadtzürcher, ein Prämiendeckel für den Kanton Tessin oder die 13. AHV-Rente. Vergangene Abstimmungen zeigen: Schweizer Bürgerinnen und Bürger schauen immer mehr auf ihr eigenes Portemonnaie und weniger auf das Gemeinwohl.

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Sind das nur Einzelfälle oder ist das der neue Zeitgeist? Für Lukas Golder, Politologe von GFS Bern, ist dies ein Ausdruck der Individualisierung. «Heute ist man wieder eher bereit, für sich selbst zu schauen, während man früher mehr auf die Vorteile der Schweiz geachtet hat.» Das Argument, den Wirtschaftsstandort schützen zu müssen, ziehe heute weniger, so Golder. «In Kampagnen wird oft direkt darüber gesprochen, welche Vor- oder Nachteile es für das eigene Portemonnaie gibt.»

Mehr egoistisch – weniger vorhersehbar

Der Politologe arbeitet seit 1999 für das GFS Bern. Seit dem Coronajahr 2020 habe sich die Meinungsbildung bei Abstimmungen verändert, beobachtet er. «Sie wurde unvorhersehbarer, egoistischer.» Einerseits habe der Staat durch die Pandemie stark in die Freiheiten des Einzelnen eingegriffen. «Das hat eine Bruchlinie geschaffen», sagt Golder.

Die jüngsten Abstimmungen zeigen: An der Urne zählt immer mehr das eigene Portemonnaie und weniger das Gemeinwohl.
Die jüngsten Abstimmungen zeigen: An der Urne zählt immer mehr das eigene Portemonnaie und weniger das Gemeinwohl. Keystone/ Michael Buholzer

Andererseits habe man damals und auch später bei der Rettung der Credit Suisse den Eindruck gewonnen, dass der Staat durchaus bereit sei, viel zu finanzieren, wenn es nötig sei. «Da ist der Eindruck gewachsen, jetzt bin ich einmal an der Reihe.» Das deutlichste Beispiel dafür sei die 13. AHV-Rente – und das jüngste Beispiel die Abschaffung des Eigenmietwerts.

Die Gefahr, sich selbst zu schaden

Mit Eigeninteressen kann man sich jedoch auch ins eigene Fleisch schneiden. Denn Vergünstigungen bedeuten oft Mehrkosten für den Staat, die sich wiederum negativ auf die Steuerzahlenden auswirken können. Dies zeigt das jüngste Beispiel aus dem Kanton Tessin, wo gleich zwei Initiativen zur Deckelung der Krankenkassenprämien angenommen wurden. Nun wird hitzig diskutiert, wie die Einbussen von rund 400 Millionen Franken finanziert werden sollen. Auf dem Tisch liegt der Vorschlag, die Steuern zu erhöhen.

Sind sich die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger dieses Risikos bewusst? «Die Menschen haben sich daran gewöhnt, dass der Staat Löcher und Lücken stopft und dabei belastbarer ist, als zuvor angenommen wird», sagt Golder. Denn in den letzten Jahrzehnten habe sich die Schweiz durch viele Krisen hindurch navigiert und dies oft ohne dramatische Folgen für Situation des Einzelnen.

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Risiko für direkte Demokratie

Der Trend der Eigeninteressen sieht der Politologe durchaus kritisch. «Für Parlamente und Regierungen wird es schwieriger, einen Kompromiss zu finden, der eine deutliche Mehrheit überzeugt.»

Nicht nur in der Schweiz, sondern auch international gebe es immer mehr knappe Entscheide. Diese seien oft polarisiert, so Golder. «Beide Seiten haben ihre Vorteilssicht und das kommt dann nahe an 50 : 50.» Für eine direkte Demokratie sei dies ein Risiko. «Denn des einen Vorteil ist des anderen Nachteil.» So trage nur eine knappe Mehrheit den Entscheid mit und ein Grossteil gehe leer aus.

Golder sieht auch die Regierung in der Pflicht. Sie müsse künftig wieder mehr Leidenschaft für Kompromisslösungen ausstrahlen. «Wenn das gelingt, kommen wieder weniger egoistische, sondern mehr gemeinwohlorientierte Resultate zustande.»

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