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Wie die Schweiz lateinamerikanische Interessen im Nazi-Europa vertrat

Brasilianische Soldaten gehen im Sommer 1944 in Neapel von Bord.
Brasilianische Soldaten gehen im Sommer 1944 in Neapel von Bord. CCA 2.0

Die Schweiz vertrat während des Zweiten Weltkriegs die Interessen lateinamerikanischer Länder. Dies trug dazu bei, ein globales diplomatisches Netzwerk aufzubauen, das zum Grossteil bis heute Bestand hat.

Die Mitteilung stammt aus einem internen DossierExterner Link des Eidgenössischen Departements für äussere Angelegenheiten (EDA): «Wir werden unsererseits eine Mitteilung an die betroffenen Delegationen in Bern versenden, in der wir darauf hinweisen, dass unsere Büros in Deutschland am 15. November geschlossen werden und wir uns nicht mehr um deren Belange kümmern können. Wir empfehlen ihnen, sich bei Bedarf an die amerikanischen Behörden zu wenden.»

Datiert ist die Notiz auf den 5. November 1945. Sie beendete, unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, eine wenig bekannte Rolle der Schweiz: die der Beschützerin der Interessen von 17 lateinamerikanischen Staaten in den Gebieten der Achsenmächte.

Der zweite Weltkrieg führte zu einem weitgehenden Zusammenbruch der internationalen Beziehungen. Damit wurde die Neutralität der Schweiz zum strategischen Vorteil: Nachdem die Länder Lateinamerikas ihre Beziehungen zu den Achsenmächten – Deutschland, Italien und Japan – und zu besetzten Nationen wie Frankreich abbrachen, übernahm Bern die Rolle der Vertreterin.

Die lateinamerikanischen Staaten standen Anfang der vierziger Jahre unter Druck der USA: Um die Sicherheit der westlichen Hemisphäre zu gewährleisten sollten sie sich den Kriegsanstrengungen der Alliierten anzuschliessen. In der Folge brachen Länder wie Uruguay, Brasilien und Mexiko ihre Beziehungen zu den Achsenmächten ab.

Diese Entscheidung führte jedoch dazu, dass Millionen von Einwander:innen sowie wirtschaftliche Akteure, die sich in diesen Ländern aufhielten, ohne diplomatische Vertretung blieben. Um diese Lücke zu füllen, wurde die Schweiz als Schutzmacht ausgewählt. Sie übernahm fortan die konsularischen und administrativen Aufgaben für beide Seiten.

Zwischen 1939 und 1945 waren Schweizer Diplomat:innen in Berlin, Rom, im von Deutschland besetzten Teil Frankreichs sowie in besetzten Städten wie Kopenhagen tätig. Sie übernahmen konsularische Aufgaben, unterstützten Bürger:innen und unterhielten geheime Kommunikationskanäle im Auftrag lateinamerikanischer Regierungen, um deren Einfluss auszuweiten und ihre Interessen in der Region zu schützen.

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«Lateinamerika war ein wichtiger Wirtschaftsmarkt, wo zahlreiche Schweizer Bürger:innen lebten», sagt Stella Krepp, assoziierte Forscherin bei der Abteilung für Iberische und Lateinamerikanische Geschichte der Universität Bern. «Die Vertretung der lateinamerikanischen Interessen in Europa verschaffte der Schweizer Regierung eine wichtige Rolle, indem sie die wirtschaftlichen Beziehungen und den Schutz ihrer Bürger:innen sicherstellte.»

So erweiterte die Schweiz diskret ihre globale Reichweite. Sie nutzte die Diplomatie, um entfernte Verbündete zu schützen und gleichzeitig ihr eigenes Einflussnetzwerk zu stärken, das laut Fachleuten bis heute Bestand hat.

Was Vertretung bedeutet

Die Rolle einer Schutzmacht, wie sie die Schweiz während des Kriegs in Europa ausübte, ist es, im Namen anderer Staaten zu handeln, die ihre diplomatischen Beziehungen abgebrochen haben oder über keine direkten Kommunikationskanäle verfügen.

Als solche vermittelte die Schweiz Nachrichten zwischen Regierungen, sicherte Botschaftseigentum und stellte sogar Dokumente wie Pässe und Visa aus. Es ist eine diskrete, aber wichtige Rolle, die das Land zu einem zuverlässigen Vermittler in internationalen Krisen machte.

Die Tradition begann während des Deutsch-Französischen Kriegs (1870–71), als die Schweiz die Schweiz die Interessen Bayerns und des Grossherzogtums Baden in Frankreich vertrat. Bedeutung gewann sie während des Ersten Weltkriegs: Zu jener Zeit übte die Schweiz etwa 36 SchutzmachtmandateExterner Link aus.

«Die Praxis der sogenannten Schutzmächte wurde nach dem Ersten Weltkrieg häufiger und im Genfer Abkommen über Kriegsgefangene formalisiert – dem Abkommen von 1929 über die Behandlung der Kriegsgefangenen, der dritten Fassung eines ursprünglich 1864 unterzeichneten Dokuments, das als Eckpfeiler des humanitären Völkerrechts gilt», sagt Paula Vedoveli, Professorin an der Hochschule für Internationale Beziehungen der Getulio-Vargas-Stiftung in Brasilien, die zu diesem Thema forscht.

«Die Praxis der ‹Schutzmächte› wurde nach dem Ersten Weltkrieg immer häufiger», sagt die Professorin Paula Vedoveli, die an der Schule für Internationale Beziehungen der Stiftung Getulio Vargas in Brasilien zu diesem Thema forscht. «Erstmals rechtlich formalisiert wurde die Praxis im Genfer Abkommen vom 27. Juli 1929 über die Behandlung der Kriegsgefangenen. Es war die dritte Ausgabe eines 1864 erstmals unterzeichneten Dokuments, das einen Eckpfeiler des humanitären Rechts darstellt.»

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Wie Propaganda im Ersten Weltkrieg die Schweiz überflutete

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Der griechische Tragödiendichter Aischylos hatte schon vor 2500 Jahren darauf hingewiesen, dass die Wahrheit das erste Opfer des Krieges ist. Die Versuche, die öffentliche Meinung zu beeinflussen, erreichten aber  1914 völlig neue Dimensionen: Die kleine Schweiz, eine neutrale Insel unter kriegsführenden Nationen, wurde zu einem medialen Schlachtfeld, auf dem mit massiver Propaganda um die öffentliche…

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Seinen Höhepunkt erreichte dieser Dienst während des Zweiten Weltkriegs, als die Schweiz laut der Online-Datenbank Diplomatische Dokumente der Schweiz (Dodis),Externer Link die offizielle Dokumente zur Schweizer Aussenpolitik und zu den internationalen Beziehungen der Schweiz sammelt, mehr als 200 Mandate für rund 42 Länder ausübte.

Es war eine beispiellose Situation.

Genf und Bern wurden zu diplomatischen Drehscheiben, die zwischen den Interessen sowohl der Achsenmächte als auch der Alliierten vermittelten. Sie machten die Schweizer Neutralität nicht nur zu einem politischen Markenzeichen, sondern zu einem strategischen Überlebensfaktor, der die Interessen der Schweiz und ihrer Bürger:innen im Ausland schützte.

Lateinamerika und die Schweiz

Nachdem die Vereinigten Staaten 1941 in den Krieg eintraten, schlossen sich mehrere lateinamerikanische Regierungen der im Januar 1942 unterzeichneten Deklaration der Vereinten Nationen an. Sie stellten sich damit offiziell auf die Seite der Alliierten.

Dennoch leisteten einige der einflussreichsten Länder der Region, darunter Brasilien, Argentinien und Chile, wegen kommerzieller Interessen oder aufgrund ideologischer Verpflichtungen gegenüber den Achsenmächten, zunächst Widerstand.

«Brasilien war das einzige lateinamerikanische Land, das sowohl Luft- als auch Bodentruppen nach Europa entsandte und gleichzeitig einen Seekrieg gegen deutsche U-Boote im Südatlantik führte», sagt Krepp. Chile brach 1943 seine diplomatischen Beziehungen zu den Achsenmächten ab. Das peronistische Argentinien erklärte ihnen 1945, kurz vor dem Sieg der Alliierten in Europa, den Krieg. Die damalige Regierung, so Krepp, sei dem europäischen Faschismus wohlwollend gegenübergestanden.

Anstatt von den südamerikanischen Staaten eine Kriegserklärung zu verlangen, entschied sich die Roosevelt-Regierung in den Vereinigten Staaten für eine graduelle Strategie: Sie übte Druck auf sie aus, die diplomatischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu den Achsenmächten abzubrechen.

Das diplomatische Vakuum, das durch den Bruch entstand, konnte die Schweiz füllen. Dies ermöglichte es dem Land, sein Modell der Quasi-Neutralität als Schutzmacht zu stärken. Rund 40% ihrer Mandate in jener Zeit stammten aus lateinamerikanischen Ländern.

«Eine solche Rolle zielt darauf ab, den Dialog zu erleichtern und die Grundprinzipien des humanitären Völkerrechts zu wahren», sagt Vedoveli. «Diese Arbeit war mit Herausforderungen verbunden. Die Parteien müssen bereit sein, die Rolle einer Schutzmacht anzuerkennen und ihren Forderungen im Namen des von ihr vertretenen Staats nachzukommen.»

Wie die Schweiz zur Wiederaufnahme des Dialogs zwischen den USA und Kuba beitragen könnte:

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Heute jedoch wird die Schweizer Neutralität laut Krepp anders gesehen als damals, als die Schweiz während des Kriegs eine gewisse Nähe zu Deutschland bewahrte.

«Ich glaube, man kann nicht behaupten kann, die Schweiz sei [während des Kriegs] neutral geblieben, da sie weiterhin enge wirtschaftliche Beziehungen zu Deutschland unterhielt», so Krepp. «Die Schweiz war besonders wichtig für [deutsche] Goldtransaktionen. Zudem stellte sie den Markt für Produkte wie etwa Öl bereit, die für die Kriegsindustrie unerlässlich waren.»

«Überproportionaler Einfluss in der lateinamerikanischen Politik»

Dank der vermeintlichen Neutralität, die die Schweiz den lateinamerikanischen Ländern bot, konnte sie ihren Einflussbereich über Europa hinaus ausweiten.

Obwohl diese Vermittlerrolle nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zunehmend von multilateralen Organisationen wie der Vereinten Nationen und der Welthandelsorganisation (WHO) übernommen wurde, ist der Einfluss der Schweiz in Lateinamerika bis heute spürbar.

«Die Schweiz war dank ihres Angebots, Schutzmachtmandate zu übernehmen, ein wichtiger Akteur in Lateinamerika», sagt Krepp. So spielte das Land eine entscheidende Rolle in Kuba, wo sie die Interessen der USA vertrat, und fungierte als Vermittlerin in interamerikanischen Konflikten, wie beispielsweise 2024 zwischen Mexiko und Ecuador. «Dies verschafft ihr einen überproportionalen Einfluss in der lateinamerikanischen Politik.»

Laut Vedoveli war es die effektive Leistung der Schweiz als Schutzmacht während des Zweiten Weltkriegs, die ihr Vermächtnis in Lateinamerika in der unmittelbaren Nachkriegszeit und während des Kalten Kriegs geprägt hat. Bis heute wird sie, wenn auch diskret, als Beobachterin und Vermittlerin in regionalen Konflikten hinzugezogen.

Editiert von Virginie Mangin/ts, Übertragung aus dem Englischen: Meret Michel

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