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Der Eiger löst weiterhin Ehrfurcht und Angst aus

Geschafft! Von links nach rechts: Harrer, Vörg, Heckmair und Kasparek. RDB

Vor 75 Jahren haben vier Männer aus Deutschland und Österreich als erste den Eiger über die tückische Nordwand bestiegen. Mit einem Eindruck aus der Nähe versuchte swissinfo.ch herauszufinden, warum die "Todeswand" bis heute Topalpinisten und gewöhnliche Touristen anzieht.

Mit einer Gruppe von Journalisten bin ich unterwegs auf einer leichten Sommerwanderung zum Fuss der Nordwand: Ich kann mir nur schwer vorstellen, wie irgendjemand diese vertikale, 1800 Meter hohe Wand überhaupt durchsteigen kann, erst recht in nur wenigen Stunden.

Sogar unsere kurze Wanderung ist nicht ohne Gefahr. Denn der Eiger ist immer etwas in Bewegung, Teile des Weges sind mit Brocken von Kalkfels übersät, leicht kann man ins Rutschen kommen; nicht ungefährlich, wenn man von der Umgebung oder durch ein Gespräch abgelenkt ist. An einem Punkt muss ich mich über einen rutschigen Haufen schmelzenden Schnees hangeln, wonach meine Fingerspitzen einige Minuten lang schmerzen.

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Erste erfolgreiche Rettung aus der Eiger-Nordwand

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Daniel Anker und Rainer Rettner schildern und kommentieren das damalige Medienereignis im Bildband “Corti-Drama” (AS-Verlag, 2007), begleitet von Albert Winklers grossartigen Fotos.

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Hartnäckiger Nebel macht es schwer, den Eiger richtig zu sehen, was diesem Berg, der Menschen aus der ganzen Welt in seinen Bann gezogen hat und zieht, einen zusätzlichen, geheimnisvollen Hauch verleiht.

“Wie oft ist das so wie jetzt?”, frage ich Stephan Siegrist, einen Schweizer Alpinisten und Bergführer, der die Nordwand bis heute 29 Mal durchstiegen hat. “Ziemlich oft im Sommer – die Wolken steigen auf und kondensieren dort. Vielfach schneit es dann auch. Schwer zu glauben, wenn man bei schönem Wetter hier unten ist”, erklärt er.

In Erinnerung an die Vergangenheit

2002 hatten Siegrist und sein Kletterkollege Michal Pitelka die Expedition von 1938 wiederholt, ausgestattet mit Kleidung und Ausrüstung wie damals. “Die Schuhe waren schrecklich schwer und schmerzten”, erinnert er sich. Auch die altmodischen Seile seien eine Belastung gewesen, fügt er hinzu.

Doch derart ausgerüstet hatten die Deutschen Anderl Heckmair und Ludwig Vörg sowie die Österreicher Heinrich Harrer und Fritz Kasparek es geschafft, vor 75 Jahren als erste Seilschaft die Eigernordwand zu durchsteigen, nachdem vor ihnen bereits neun Bergsteiger beim Versuch ums Leben gekommen waren. Die Expedition hatte fast vier Tage gedauert, und an brenzligen Situationen wie Lawinen und Stürzen hatte es nicht gefehlt.

Seit der Erstbesteigung 1938 sind mindestens 55 weitere Menschen beim Versuch, die 1800 Meter hohe Nordwand des Eigers – manchmal auch als “Mordwand” oder “Todeswand” bezeichnet – zu durchsteigen, ums Leben gekommen. Der Berg selber ist 3970 Meter hoch.

Die Erstbesteigung des Eigers über die Nordwand durch das deutsch-österreichische Team hatte auch eine düstere Seite: Die Nazis beuteten die Leistung zu Propagandazwecken aus.

Nach dem so genannten Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich war der österreichische Bergsteiger Heinrich Harrer Mitglied der NSDAP und der berüchtigten SS geworden, was erst in den 1990er-Jahren bekannt wurde.

Er wurde dafür kritisiert, dies nie selber thematisiert zu haben, konnte aber glaubhaft machen, dass er Nazi-Partei und SS nur aus opportunistischen Gründen beigetreten war.

Harrer ist auch bekannt für die Zeit, die er mit dem damals jungen Dalai Lama verbrachte, nachdem er 1944 aus einem britischen Internierungslager in Indien ausgebrochen und nach Tibet geflohen war.

Sein Buch “Sieben Jahre in Tibet”, in dem er seine Zeit als Lehrer und Freund des Dalai Lama schilderte, wurde zu einem Bestseller und 1996 von Hollywood mit Brad Pitt als Harrer verfilmt.

Eines der Todesopfer war der Amerikaner John Harlin II., dessen Seil im März 1966 auf einer Höhe von 1300 Metern gerissen war. Er hatte versucht, die erste “Direttissima” (direkteste Route) zu finden. Sein schottischer Kletterpartner sowie ein Team von vier Deutschen kamen am 25. März auf dem Gipfel an, einen Monat, nachdem sie aufgebrochen waren. Die neue Route wurde nach Harlin benannt.

Sein Sohn, John Harlin III., war damals erst neun Jahre alt. Der Verlust seines Vaters verfolgte und inspirierte ihn zugleich. 2005 durchstieg er selber die Nordwand; der IMAX-Film “Die Alpen” zeigt die Geschichte seines Bestrebens, die Schatten seiner Vergangenheit zu überwinden.

Einige Jahre später produzierte Harlin unter dem Titel “Border Stories” (Grenzgeschichten) einen Multi-Media-Blog für swissinfo.ch.

“Der Everest der echten Kletterer”

“Der Eiger hat schon immer Bergsteiger in aller Welt fasziniert, und wird es wahrscheinlich immer tun. Es ist grösste Wand in den Alpen (und eine der grössten der Welt) und das Klettern ist schwierig. Der Ruf des Eigers ist aber mindestens so bedeutend wie seine Grösse und Schwierigkeit”, erklärt Harlin gegenüber swissinfo.ch.

Dabei verweist er auf die Todesfälle, aber auch auf unglaubliche Erfolgsgeschichten und Rettungsaktionen wie die Toni-Kurz-Tragödie 1936 oder das Claudio-Corti-Drama von 1957.

Harlin glaubt, der Ruf des Eigers und dessen Geschichte seien der Grund dafür, dass sich derart viele Kletterer unter den Legenden einreihen wollten.

“Es gibt nur einige wenige ikonenhafte Wände und Berge, die wir alle erfahren wollen. Die meisten können nur vom Eiger träumen, doch wenn man die Fähigkeiten und den Mut zur Besteigung hat, will man es sich selbst beweisen. Für mich ist der Eiger der Everest der echten Kletterer”, sagt Harlin.

Auch Siegrists Wertschätzung für den Eiger ist gross. “Es ist ein grosses Bergabenteuer, und es ist immer schön, hier zu klettern. Man hat eine wirklich grossartige Sicht auf die Landschaft, auch das macht ihn sehr speziell”, sagt Siegrist – und verweist auf den Kontrast zwischen dem kalten, grauen Felsen und der grünen Landschaft.

24.7.1938: Erste Besteigung des Eigers über die tückische Nordwand. Die Deutschen Anderl Heckmair und Ludwig Vörg und die Österreicher Heinrich Harrer und Fritz Kasparek erreichen den Gipfel nach dreieinhalb Tagen.

12.3.1961: Vier Deutschen gelingt die erste Winterbesteigung.

3.8.1963: Der Schweizer Michel Darbellay besteigt den Eiger als erster im Alleingang, er brauche dazu 18 Stunden.

3.9.1964: Als erste Frau erreicht die Deutsche Daisy Voog (zusammen mit Werner Bittner) den Gipfel über die Nordwand.

25.8.1981: Der Schweizer Ueli Bühler braucht für den Aufstieg 8 Stunden.

27.7.1984: Der Österreicher Thomas Bubendorfer erreicht den Gipfel ohne Seil nach 4 Stunden und 50 Minuten.

9.3.1992: Die Französin Catherine Destivelle durchsteigt als erste Frau allein die Nordwand: Nach 17 Stunden erreicht sie den Gipfel.

12.2.2008: Der Schweizer Ueli Steck setzt mit einer Zeit von 2 Stunden und 47 Minuten einen neuen Streckenrekord.

20.4.2011: Der Schweizer Daniel Arnold verbessert Stecks Rekord auf 2 Stunden und 28 Minuten.

Grosse Popularität

Fredi Abegglen, Präsident der Bergführer-Vereinigung in Grindelwald, betont, dass alle Chalets im Bergdorf so gebaut worden seien, dass man einen Blick auf die imposante Felswand habe.

“Wenn man in Grindelwald ist, ist die Eigernordwand derart präsent wie der Blick am Morgen in den Spiegel”, sagt er.

Johann Kaufmann, Bergführer und Leiter der Bergsportschule Grindelwald, fügt hinzu: “Es ist unser einzigartiges Verkaufsargument. Ich habe viele Berge gesehen, aber nur selten derart faszinierende.”

Ein Beweis dafür, welch grosse Anziehungskraft der Eiger auch für Leute hat, die nicht klettern, ist, dass es in Grindelwald seit fast 30 Jahren ein speziell für Gäste aus Japan ausgerichtetes Tourismusbüro gibt.

“Sie kommen nicht, um zu klettern, sondern um zu sehen, wo japanische Bergsteiger wie Yuko Maki waren”, erklärt Yuri Ichikawa vom Japanischen Informationsbüro. Maki war Mitglied einer Seilschaft aus vier Männern, die am 10. September 1921 als erste über den Mittellegigrat auf den Gipfel stiegen.

Auch die Popkultur beeinflusst die Reisepläne der Gäste aus Japan. “Die Leute in Japan haben ein Bild der Schweiz, und dieses Bild ist Grindelwald”, sagt Ichikawa.

Der Grund sei, dass die japanischen Künstler, die den “Heidi”-Trickfilm schufen, für die Zeichnungen der Landschaft auf Sehenswürdigkeiten wie Eiger, Mönch und Jungfrau und das Postkarten-Idyll des Lauterbrunnentals setzten.

Wie Heidi bin ich damit zufrieden, mich in den Ausläufern der Berge auf sanften Wanderwegen zu tummeln, ohne schwere Ausrüstung und ohne Angst vor einem Sturz in den Tod. Ja, ich ziehe es vor, die Nordwand des Eigers vom sicheren Boden aus zu bewundern.

(Übertragung aus dem Englischen: Rita Emch)

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