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Chur: Schluss mit zelebrierter Heimatlosigkeit

Alt und neu verzahnt: Der neue Bahnhof nimmt Rücksicht auf das alte Gebäude. swissinfo.ch

Seit April 2004 ist das Bahnhof-Areal Chur eine Grossbaustelle. Neben dem neuen Bahnhof entstehen Büroflächen, Wohn- und Schulungsraum.

Das 330-Millionen-Projekt ist das Ergebnis langjähriger politischer Diskussionen und Prozesse und wird das Bahnhofquartier aufwerten.

Auch ohne Baumaschinen wäre der Bahnhofplatz Chur keine Visitenkarte. Der Blick trifft Architektursünden der 60er-Jahre. Die hohen Zweckbauten überragen und dominieren den kleinen, zweigeschossigen Bahnhof. Davor knattern Autobusse, pfeift die Arosa-Bahn. Das Fussvolk sucht sich seinen richtigen Weg.

Doch die zelebrierte Heimatlosigkeit ist bald Vergangenheit. «Der neue Platz wird grosszügig und städtisch sein, aber den Massstab von Chur nicht missachten. Der Blick in die Berge, die Handlichkeit waren mir wichtig», erzählt der Architekt Conradin Clavuot im Gespräch mit swissinfo.

Zusammenschluss statt Zusammenstoss

Der Bündner hat im Jahr 2000 den Wettbewerb für den Um- und Neubau des Bahnhofareals gewonnen. Der alte Bahnhof wird restauriert und mit einem neuen Gebäude erweitert. «Neu und alt sollen zusammen das Bahnhofgebäude bilden.»

Clavuot erreicht sein Ziel nicht mit Anbiederung an den Altbau, sondern mit Symmetrie, ausgewogenen Dimensionen und Proportionen. Der Altbau ist aus Sandstein. Glas und Stahl prägen die Fassade des Neubaus. «Wir verbinden die beiden Gebäude wie zwei ineinander gesteckte Kämme, dann hat jedes wieder seine Eigenheiten.»

So nimmt der lange, gestreckte, zweigeschossige Neubau die Vor- und Rücksprünge des alten Gebäudes auf. Das neue Flachdach ragt teilweise in den Altbau hinein.

Zwei weitere neue, höher ragende Geschäfts- und Wohnhäuser in derselben zeitgenössischen Architektursprache werden den vergrösserten Bahnhofplatz harmonisieren. Hinter den Geleisen bauen die SBB zudem einen Neubau, der bereits an den Kanton Graubünden vermietet ist.

Unterirdisch, aber nicht wie Ratten

Unter den neuen Bahnhof baut Clavuot eine «tiefer gelegte Bahnhofstrasse», eine 20 Meter breite Ladenpassage mit viel Tageslicht, einem direkten Zugang zum künftigen Parkhaus und grosszügig konzipierten Aufgängen auf den Bahnhofplatz
«Es ist eine wesentliche Frage, wie wir – einst als Gast und König durch ein Portal empfangen – in einer Stadt ankommen», betont Denkmalpfleger Hans Rutishauser, der wie andere auch gegen eine düstere Unterführung gekämpft hatte.

«Heute schleichen wir wie Ratten durch unterirdische Zugänge in die Städte und haben Schwierigkeiten, uns zu orientieren.» Dem habe das Projekt Rechnung getragen: «Die Unterführung ist an Himmel und Oberwelt angehängt, möglichst offen und transparent.»

Eine Kathedrale für Postautos

Startschuss für die Neugestaltung des Bahnhofareals war eine Volksabstimmung im Herbst 2003. 90% der Churerinnen und Churer stimmten Ja, ein Resultat jahrzehntelanger politischer und planerischer Entscheidungsfindungs-Prozesse.

1986 haben die Bündner Architekten Richard Brosi und Robert Obrist den Ideenwettbewerb für einen neuen Bahnhof gewonnen. Mittelpunkt ihres Projekts war eine überdimensionierte, transparente Bahnhofhalle.

Ab 1990 realisierte die Post einen ersten Teil dieser Stahlüberdachung. Das mit dem «Brunel Award» ausgezeichnete Fragment steht nun als Postauto-Kathedrale in der Landschaft. Ursprünglich wollten die SBB das Dach über die Geleisanlagen weiterbauen, verzichteten aus finanziellen Gründen jedoch darauf.

Zurück zum Start

Gleichzeitig plante die Stadt die Verlegung der Rhätischen Bahn in den Untergrund und wollte mit einem Tunnel die Arosa-Bahn von der Strasse nehmen. Das provozierte intensive politische Diskussionen. Eine Volksabstimmung hat die Träume begraben. Die Strassenbahn wird auch künftig vor den Bahnhof tuckern.

Der Abbruch des alten Bahnhofs und die von den SBB geplante Aufstockung des Gebäudes scheiterten am Widerstand von Denkmalpflege und Heimatschutz. Schliesslich musste das Projekt im Jahr 2000 noch einmal zurück an den Start.

Das Gebäude aus dem Jahr 1878 wird nun fachgerecht restauriert und teilweise in den ursprünglichen Zustand zurückversetzt. «Wir werden keine Kopie erstellen, sondern möglichst das Original erhalten», freut sich Denkmalpfleger Rutishauser.

Veränderte Welten

«Man weiss nicht genau, womit damals das Dach gedeckt wurde, aber auf diesem schlössliartigen Schmuckkästchen wäre Schiefer schon viel schöner als banales Eternit, wenn auch teurer. Beschränkte Finanzen haben grundsätzlich auch Vorteile. Der Spardruck hemmt die typisch schweizerische Devise: kaputt? – neu kaufen!»

Zufrieden ist auch Architekt Clavuot. «Ich war an zwei Wettbewerben beteiligt. Das zweite Mal habe ich Fehler am ersten Projekt korrigieren können. Jetzt gefallen mir die räumlichen Proportionen. In drei Jahren wird die Welt um den Bahnhof Chur ganz anders aussehen. Das ist faszinierend.»

Schliesslich hat das redimensionierte Projekt einen handfesten Vorteil: «Wir waren damals skeptisch, ob für die Überbauung überhaupt genügend Nachfrage vorhanden ist. Mit der jetzigen, bescheideneren Variante werden wir die von uns nicht genutzten Flächen alle vermieten können», sagt SBB-Gesamtprojektleiter Andreas Nef.

swissinfo, Andreas Keiser, Chur

Die Kosten für den Um- und Neubau des Bahnhof-Areals Chur betragen 330 Mio. Franken.

Der alte Bahnhof wird restauriert und mit einem zeitgenössischen Anbau erweitert. Zusätzlich entstehen drei Neubauten, eine Unterführung und ein Parking.

Denkmalpflege und Heimatschutz haben einen Abriss des alten Bahnhofgebäudes verhindert.

Das nun im Bau stehende Konzept ist das Resultat jahrzehntelanger politischer und planerischer Diskussionen.

In einer Volksabstimmung hiessen 90% das Projekt gut.

Die Schweizerischen Bundesbanhnen (SBB sind am 20. August 2005 für ihr Engagement im Bereich Baukultur mit dem Wakker-Preis des Schweizer Heimatschutzes ausgezeichnet worden.

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