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Immer mehr Bauern sehen sich als Working Poor

Keystone

Rund jeder zweite Schweizer Bauernbetrieb sei in seiner Existenz bedroht, stellt der Schweizerische Bauernverband (SBV) fest.

Das Bundesamt für Landwirtschaft relativiert die Einschätzung des SBV, besonders was die Höhe der bäuerlichen Einkommen betrifft.

Laut dem Schweizerischen Bauernverband (SBV) kann jede vierte Bauernfamilie mit ihren Einkünften ihren Lebensunterhalt nicht decken. Diese 25% der Bauernfamilien müssten als Working Poor bezeichnet werden.

Ihre Einkommen lägen nach Abzug von Steuern und Sozialversicherungs-Beiträgen unter der offiziellen Armutsgrenze, schreibt der SBV.

Hohe Working-Poor-Quote bei Bauern

Die durchschnittliche Working-Poor-Quote der Schweiz liegt laut SBV bei 6,7%. In der Landwirtschaft bewege sie sich je nach Qualität der Ernte viel höher, zwischen 20 und 30%.

Ein weiteres Viertel der Schweizer Bauernbetriebe bringe zu wenig ein, um Investitionen zu tätigen oder die Altersvorsorge der Familien zu sichern.

Somit drohten rund die Hälfte der Betriebe zu verschwinden – und dies ohne die Auswirkungen von Agrarpolitik 2011 (“AP 2011”), Freihandelsabkommen und WTO-Verhandlungen.

Mehr Geld

Vom Nationalrat fordert der Bauernverband, die “AP 2011” zu korrigieren und den Bauern mehr Geld zur Verfügung zu stellen.

Der vom Ständerat in der Wintersession um 150 Millionen auf 13,65 Mrd. Franken erhöhte Zahlungsrahmen genügt ihm nicht. Er beharrt auf den in der Vernehmlassung verlangten 14 Mrd. Franken.

Verbandspräsident Hansjörg Walter, thurgauischer Nationalrat der Schweizerischen Volkspartei (SVP) sprach von einem Wendepunkt: Es gehe um die Frage, ob Bevölkerung und Volksvertreter noch hinter der multifunktionalen Landwirtschaft stünden, wie sie die Verfassung vorsehe.

Volk und Politiker müssten sich fragen, ob sie weiterhin hochwertige, umwelt- und tierfreundlich produzierte Nahrungsmittel wollten, ob abgelegene Gebiete weiterhin belebt sein sollten und ob die vielfältige Kulturlandschaft einer “skandinavischen” Schweiz mit ausgedehnten Waldflächen weichen solle.

Neue Einkommensquellen

Seinen Bericht widmet der SBV auch der nachhaltigen Ernährung: Die Konsumenten könnten die Nachhaltigkeit der landwirtschaftlichen Produktion mit ihren Einkäufen direkt steuern.

Die Bauernfamilien wollten weiterhin qualitativ gute und sichere Lebensmittel produzieren, und sie seien bereit, sich dafür weiter anzupassen. Zudem braucht es für den SBV auch neue Einkommensquellen für die Landwirtschaft, etwa im Tourismus und bei der Energieproduktion aus Biomasse.

Doch nur mit akzeptablen gesetzlichen Rahmenbedingungen könnten Bauern ihr Potenzial ausschöpfen.

Nebeneinkünfte werden wichtiger

Nebeneinkünfte werden nach Einschätzung des SBV immer wichtiger. Vor allem in Randgebieten müssten aber genug Arbeitsplätze vorhanden sein, mahnt er. Voraussetzung dafür sei eine griffige Regionalpolitik.

Schliesslich warnt der Verband vor unausgewogenen Liberalisierungs-Schritten. Die Öffnung der Schweizer Agrarmärkte müsse sorgfältig gestaltet und die ganze Wertschöpfungskette einbezogen werden.

Reaktionen auf Bericht

Der Vizedirektor des Bundesamts für Landwirtschaft, Eduard Hofer, revidiert die Einschätzung des Bauernverbandes, wonach ein Viertel der Bauern unter der Armutsgrenze lebe.

Es sei grundsätzlich problematisch, das bäuerliche Einkommen mit anderen Einkommen zu vergleichen, so Hofer. Denn trotz einem geringen Einkommen verfügten auslaufende Bauernbetriebe über genügend flüssige Mittel zum Leben.

Ihre Buchhaltung weise nämlich wegen der Abschreibungen ein kleines Einkommen auf. Der hohe Anteil der Working Poor sei Ausdruck des Strukturwandels, der nicht aufzuhalten sei.

Auch die Forderungen nach mehr Unterstützung durch den Bund teilt Hofer nicht. “Das wären nur kurzfristige Erleichterungen.”

Dass solche Betriebe verschwinden, sei agrarpolitisch gewollt, bekräftigt Alfred Buess, Direktor der Schweizerischen Hochschule für Landwirtschaft in Zollikofen bei Bern. Diese “ausgelaugten” Gehöfte könnten oftmals noch mit Gewinn verkauft werden.

Viel Rückhalt im Volk

40’000 bis 45’000 Bauernbetriebe würden genügen, um die Schweizer Landschaft so zu erhalten, wie sie heute aussehe. “Würde die Hälfte der heutigen Betriebe verschwinden, sähe es vielleicht anders aus.” Und man müsse sich fragen, ob die Prognose des SBV stimme, wonach eine Halbierung der Betriebszahl erwartet werden müsse.

Noch immer würden nicht rentable Betriebe aus Überzeugung und Begeisterung weitergeführt. Und auch weil die Landwirtschaft im Volk und beim Staat nach wie vor grossen Rückhalt habe, sei Weltuntergangsstimmung nicht am Platz.

swissinfo und Agenturen

2005 waren 188’000 Personen in der Landwirtschaft beschäftigt. 1990 waren es noch 254’600 gewesen.
Zwischen 1900 und 2005 gaben 30’000 Bauernbetriebe auf.
In der gleichen Periode stiegen die jährlichen Ausgaben des Bundes von 2,6 auf 3,7 Mrd.
2005 betrug der Anteil der Landwirtschaft am Brutto-Inland-Produkt 1%.
Der Arbeitsverdienst pro Jahr und Familienarbeitskraft eines Betriebs 2005 betrug 33’800 (Vorjahr: 36’700) Franken.
Ausserhalb der Landwirtschaft belief sich 2005 das Durchschnittseinkommen auf das Doppelte, 67’200 Franken.

Zwischen 2004 und 2007 unterstützt die Eidgenossenschaft die Landwirtschaft mit insgesamt 14,092 Mrd. Franken.

Die Ausgaben entsprechen 8,5% der Totalausgaben. Im Jahr 1990 waren es noch 7,1%.

Die Agrarpolitik 2011 (AP) hat zum Ziel, die Wettbewerbsfähigkeit der Landwirtschaft zu verbessern.

Kernelement der AP-Reform ist eine starke Reduktion der heute zur Preisstützung eingesetzten Mittel und deren Umlagerung in produktenabhängige Direktzahlungen.

Die Landesregierung will für die Jahre 2008 bis 2011 eine Rahmenbetrag von 13,5 Mrd. für die Landwirtschaft einsetzen.

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