Kernkraftpionier Finnland – ein Vorbild für die Schweiz?
Finnland ist das erste Land, das seit Tschernobyl ein neues Kernkraftwerk bewilligt und damit international eine Debatte über Nuklearenergie ausgelöst hat.
Zudem ist in Finnland das weltweit erste Endlager für hochradioaktive Abfälle im Bau. Die Schweizer Kernenergiepolitik hingegen befindet sich seit Jahren in einer Reflexionsphase.
Die Baugrube für Olkiluoto 3 ist gigantisch. Seit einem Jahr bauen Hunderte von Arbeitern und Ingenieuren die erste Beton-Hülle für den Reaktor.
«Hier muss man nicht wie in der Schweiz mehrere Hundert Meter unter die Erde bohren, um die Stabilität abzuklären. Da genügt es, die oberste Erdschicht abzutragen», sagt Markus Fritschi und zeigt auf die überall sichtbaren Granitfelsen.
Von den geologischen und politischen Verhältnissen in Finnland kann der Leiter der Lagerprojekte bei der Nationalen Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle (Nagra) nur träumen.
Ende Juni kam die schweizerische Landesregierung zum Schluss: Die Nagra hat den Nachweis erbracht, hochradioaktiver Abfall kann in der Schweiz endgelagert werden. So verlangt es das neue Kernenergie-Gesetz, das seit Februar 2005 in Kraft ist. Im Gesetz ist auch ein 10-jähriges Moratorium für die Wiederaufbereitung verankert.
Das heisst konkret: Die ausrangierten Brennstäbe müssen während 40 Jahren zwischengelagert und anschliessend in einem geologischen Tiefenlager in der Schweiz endgelagert werden.
Wissenschaftliche Grundlage unbestritten
«Seit dem Entscheid der Regierung ist klar, dass die Diskussion um ein neues Kernkraftwerk von der Diskussion um die Endlagerung abgekoppelt ist», unterstreicht Fritschi. «Die wissenschaftliche Grundlage für die Tiefenlagerung wird auch von den Opponenten nicht in Zweifel gezogen.»
Nicht geklärt ist allerdings der Standort des künftigen Endlagers. Die Forschungen der Nagra weisen Benken im Zürcher Weinland als idealen Standort aus.
Die Landesregierung jedoch ist bestrebt, die politische Konfrontation zu vermeiden und will sich noch nicht festlegen. Die Regierung des Kantons Zürich hat bereits Opposition gegen einen allfälligen Standort Benken angekündet.
Debatte auf Sparflamme
Nicht geklärt ist in der Schweiz auch die Problematik der künftigen Stromproduktion. Linke und Grüne fordern einen mittelfristigen Ausstieg aus der Atomenergie und die Förderung von Alternativen.
Die Bürgerlichen und die Stromwirtschaft denken zuweilen laut über den Bau eines neuen Kernkraftwerks nach.
Der Bundesrat hat sich noch auf kein Szenario festgelegt. Der Stromverbrauch steigt von Jahr zu Jahr. Spätestens 2020 werden die ältesten Schweizer KKW vom Netz genommen.
Zweite Betonschale für Reaktorgebäude
Olkiluoto ist eine Halbinsel an der finnischen Westküste, 300 Kilometer nordwestlich von Helsinki. Hier ist mit Olkiluoto 3 seit September 2005 weltweit der erste europäische Druckwasser-Reaktor (EPR) im Bau. Er wird 2010 mit einer Leistung von 1600 Megawatt ans Netz gehen.
EPR ist keine grundsätzlich neue Technologie. «Die technologischen Unterschiede gegenüber den bekannten Reaktortypen sind akademisch. EPR ist die dritte Reaktorgeneration und resultiert aus der kontinuierlichen Weiterentwicklung der Reaktoren in Deutschland und Frankreich», erklärt Michael Schorer vom Nuklearforum Schweiz gegenüber swissinfo.
Bautechnisch neu sind eine zweite Betonschale für das Reaktorgebäude und eine Ausbreitungsfläche für die Kühlung im Fall einer Kernschmelze. «Wir haben Olkiluoto 3 nach dem 11. September 2001 zusätzlich so verstärkt, dass das Reaktorgebäude auch durch einen Angriff mit einem Flugzeug nicht beschädigt werden kann», erklärt Martin Landtman, Senior Vice President des Projekts.
Kern statt Kohle: weniger CO2
Auf Olkiluoto sind bereits zwei Kernkraftwerke, ein Zwischenlager für hochradioaktive Abfälle und ein Endlager für schwach- und mittelradioaktive Abfälle in Betrieb. Das weltweit erste Lager für hochradioaktive Abfälle ist im Bau.
1993 hatte das finnische Parlament den Bau von weiteren Atomanlagen abgelehnt. «In der Zwischenzeit ist ein Sinneswandel eingetreten», erklärt Jorma Aurela vom finnischen Energie-Departement im Gespräch mit swissinfo.
«Mit Olkiluoto 3 ersetzen wir auch alte Kohlenkraftwerke und können so die Ziele des Kyoto-Protokolls erreichen.»
swissinfo, Andreas Keiser, Olkiluoto
Fläche: 41’285 / 338’145 km2
Einwohner: 7,5 / 5,2 Mio.
Stromverbrauch: 61,6 / 84,9 Terawattstunden
Davon Industrie: 33% / 52%
Verbrauch pro Kopf: 7700 / 16’000 Kilowattstunden
Anteil Kernenergie: 40% / 26%
Anzahl KKW: 5 / 4
(Inbetriebnahme Olkiluoto 3: 2010)
Finnland baut zurzeit das 5. KKW. Der Bau von Nr. 6 wird diskutiert.
Der Strommarkt ist privat. Für die Bewilligungen ist die Politik zuständig.
Olkiluoto 3 wurde 1998 von der Stromwirtschaft initiiert.
Das Projekt löste politische Konflikte aus. Die Gräben (Gas- oder Kernenergie?) verliefen quer durch die Parteien.
Die Regierung fällte im Januar 2002 den Grundsatzentscheid für ein neues KKW.
Das Parlament gab im Mai 2002 mit 108 zu 92 Stimmen grünes Licht.
Die Grünen traten danach aus der Regierungskoalition aus.
Das Lager für hochradioaktive Abfälle soll 2020 betriebsbereit sein.
Die Regierung erteilte im Dezember 2000 die Rahmenbewilligung, welche im Mai 2001 vom Parlament mit 159 zu 3 Stimmen ratifiziert wurde.
In der Schweiz sind fünf Kernkraftwerke in Betrieb, die pro Jahr zusammen rund 24 Mrd. Kilowattstunden Strom produzieren.
Beznau I: 1969
Beznau II: 1971
Mühleberg: 1971
Gösgen: 1979
Leibstadt: 1984
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