Schmuggel-Epos zwischen Veltlin und Puschlav
Das Geschäft mit dem Schmuggel hat die Grenzregionen der Schweiz über Jahrhunderte geprägt. Heute, im Zeitalter des Schengenraums, wo Grenzen sich auflösen, entwickelt sich aus dem Erbe der Geschichte ein Träger der Identität.
Wer seine Kindheit in den 1970er-Jahren in Brusio im südlichen Teil von Graubünden verbrachte, erinnert sich noch, wie es im ganzen Dort nach geröstetem Kaffee roch. Nur wenige Kilometer von der italienischen Grenze entfernt wurden die Kaffeebohnen in sechs oder sieben Röstereien zubereitet.
Von Brusio aus wurden die Kaffeesäcke mit Jeeps, Pferden, Maultieren und Seilbahnen den Bergen entlang weiterverfrachtet. Dort warteten Dutzende von italienischen Schmugglern, die die Ware illegal ins Veltlin brachten.
Auf der Schweizer Seite lief alles völlig legal ab. In Bundesbern wurde sogar eine eigene Administrativ-Bezeichnung für diese Art von Ausfuhr kreiert: «Export zwei» – ob mit einem Augenzwinkern oder im ernsthaften behördlichen Eifer, wird wohl nie herauszufinden sein.
Es begann mit Napoleon
Einst waren die Täler Veltlin (Valtellina) und Valchiavenna dem Freistaat der Drei Bünde unterworfen. Für diesen Freistaat, dem Vorläufer des Kantons Graubünden, waren diese Täler zwar Untertanenland. Im Alltag jedoch verfügten sie über viel Autonomie, auch wirtschaftlich.
1798 wurde das Veltlin von Graubünden abgespalten: Jetzt durchzog eine von Napoleon auferlegte künstliche Grenze die Region, die bisher immer durch enge Bande verflochten gewesen war. Wirtschaftliche und menschliche Beziehungen wurden plötzlich von Funktionären aus fernen Zentren unterbunden – fern vom lokalen Alltag.
Schon damals war Schmuggel im Veltlin nicht Neues: Doch lief er im Süden an der Grenze zum Herzogtum Mailand ab. Mit der neu erzwungenen Situation nistete er sich als ständiges Phänomen ein. Seither überquerten während des gesamten 19. bis in die 70er-Jahre des 20. Jahrhunderts Salz, Tabak, Reis, Kaffee und Zigaretten illegal die Grenze – je nach Ware in Richtung Italien oder Schweiz.
Das alpine Schmuggelwesen im Norden Italiens entsprach wirtschaftlich gesehen der Brigantenplage im Süden des Landes – eine Art von Rebellion der Bevölkerung gegen die auferlegten Zoll- und Administrativ-Vorschriften der damals neuen Nationalstaaten. Diese erzwangen künstliche Grenzen, wo früher geografisch und bevölkerungsmässig oft keine waren, ohne Rücksicht auf wirtschaftlich Gewachsenes zu nehmen.
So hatte der Schmuggel auch Gewalt und Tote zur Folge, sowohl unter den Grenzwächtern als auch bei den Warenträgern.
Reis, Schreibmaschinen, Akkordeon auf 1200 Meter über Meer
Im 19. bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden in den Alpen vor allem Salz und Tabak illegal aus der Schweiz nach Italien ausgeführt. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zu einem Wiederaufschwung, diesmal waren es Zigaretten und Kaffee. Während dem Weltkrieg hingegen kehrten die Warenströme, die Schweiz führte nun aus Italien ein.
«Der Zusammenbruch des Werts der Lira während des Kriegs führte dazu, dass die Italiener in Grenznähe versuchten, alles mögliche in die Schweiz zu schmuggeln, um zu Franken zu kommen», sagt der Tessiner Historiker Adriano Bazzocco. «Dies trifft in erster Linie auf Reis zu, weil in der Schweiz eine grosse Nachfrage danach bestand, aber auch auf andere Waren.»
«In Viano ging es zu und her wie auf einem grossen Markt», erinnert sich Domenic Gisep, Schweizer Grenzwächter im Puschlav zwischen 1940 und 1944. Viano liegt auf 1200 Meter über Meer, an der Grenze zwischen dem Puschlav und dem Veltlin. «Es gab Reis zu kaufen, aber auch Schreibmaschinen, Handorgeln und vieles mehr.»
Nach 1943 auch Menschenschmuggel
Nach dem Tod von Mussolini und dem Waffenstillstand besetzte die deutsche Wehrmacht Norditalien. Damit begann ab September 1943 neben dem Waren- auch der Menschenschmuggel in Richtung Schweiz: jüdische Flüchtlinge, italienische Armeeangehörige, Kriegsgefangene. «Für die Schmuggler war das Überführen von Flüchtlingen in die Schweiz gegen Geld ein Teil ihrer Arbeit», erzählt Bazzocco.
«Einige haben es wohl auch aus idealistischen Motiven gemacht. Aber für die meisten war es nur eine natürliche Diversifikation ihrer Aktivitäten.»
Das Ende der Lastenträger
Als den Kindern in den frühen 70er-Jahren in Brusio der Geruch des gerösteten Kaffees in die Nase stieg, neigten sich die «Jahre des Kaffees» bereits ihrem Ende entgegen. Dies bedeutete auch das Ende einer Jahrhundert-Epoche, jene der einfachen Lastenträger. Diese «traditionellen» Schmuggler trugen ihre Pakete noch auf ihrem Rücken über die schmalen Bergpfade. Meist handelte es sich um wenig profitable Waren, so dass die illegale Einfuhr zahlreiche Träger beschäftigte.
Noch heute erzählt man sich in den Grenzregionen zahllose Schmuggel-Anekdoten: Schmuggler als Robin-Hood-ähnliche Volkshelden im Dienst der Armen oder als schlaue und wendige Grenz-Unternehmer.
Was auf diesen traditionellen Schmuggel folgte, war etwas anderes: Viel näher am organisierten Verbrechen, mehr Geld und Gewalt im Hintergrund, und ohne die über zwei Jahrhunderte anhaltende regionale Verankerung in der Bevölkerung.
Alternative Jobs für Grenzgänger
«Seit dem Ende des letzten Weltkriegs gab es auch wirtschaftliche Alternativen zum Schmuggel-Geschäft», so Bazzocco. Die Schweiz habe den Grenzgängern zahlreiche andere Beschäftigungen offeriert.
«Noch für einige Jahre zog das illegale Import-Export-Geschäft weiterhin junge Leute an, denen die Arbeitsdisziplin der Fabriken nicht zusagte, und die vom sozialen Status des Schmugglers fasziniert waren», so Bazzocco.
«Die Abwertung der Lira in den 70er-Jahren dezimierte die Gewinnmargen im traditionellen Schmuggel zusätzlich. Das war dann das Ende.» Es verblieb eine kleine Minderheit von Schmugglern, die wegen ihrer Erfahrung vom organisierten Verbrechen eingespannt wurde. «Es ging um eine Art von Schmuggel, die wenig Personal brauchte: Drogen und illegaler Kapitalexport aus Italien.»
So wandelte sich ein gesellschaftlich akzeptiertes Massenphänomen mit der Zeit in eine von wenigen ausgeübte exklusive Beschäftigung mit der Illegalität – mehr oder weniger gebunden ans internationale Verbrechen.
Doch darüber wird in den Grenzregionen nur wenig gesprochen.
swissinfo, Andrea Tognina
(Übertragung aus dem Italienischen: Alexander Künzle)
Domenic Gisep war zwischen 1940 und 1944 Grenzwächter. In einem 1999 gegebenen Interview erinnert er sich an zahlreiche Anekdoten über den Schmuggel über die Landesgrenze zwischen dem Puschlav und Veltlin.
«Don Felicissimo war der Dorfpfarrer von Viano. Oft begab er sich nach Italien, nach Tirano, Roncaiola, Baruffini. Einmal traf ich ihn, als er gerade nach Viano, also in die Schweiz zurück kehrte.
Ich wusste, dass sie auf der italienischen Seite gerade ein Schwein geschlachtet hatten. Sicher hatte er Würste unter seiner Soutane versteckt. Doch ich sagte kein Wort. Was hätte ich mit seinen Würsten tun sollen?»
«Ich erinnere mich, wie ein Schmuggler die 30 Bände der Enciclopedia Treccani bis nach Viano schleppte.
Sie waren bestimmt für reformierten Theologen Giovanni Luzzi, der die Bibel auf italienisch übersetzt hatte. Luzzi war damals evangelischer Pastor im Puschlav.
Später schenkte mir Luzzi die 30 Bände. Ich nahm sie immer mit mir, als ich im Dienst von einem zum anderem Grenzposten wechselte.»
«In Viano erstand ich von einem Schmuggler auch eine Handorgel. Und ich begann, Musik-Unterricht zu nehmen.
Doch ich brauchte drei Stunden zu Fuss bis zum Lehrer. Das war mir dann mit der Zeit zuviel.»
«Einmal begab ich mich nach Tirano in der Uniform eines italienischen Unteroffiziers. Die Schweizer Armee wollte wissen, wieviel Truppen die Wehrmacht in Tirano stationiert hatte.
Ein befreundeter Unteroffizier hatte mir dafür seine Uniform samt Ausweis überlassen.
Auf dem Rückweg machte ich Halt in Baruffini und wurde von einem Schmuggler zu einem Kaffee eingeladen.
Da sah mich ein kleines Mädchen und sagte: «Das ist doch der Gisep!»
Darauf verschwand ich so schnell wie möglich. Hätten die Schmuggler meine Verkleidung bemerkt, hätte es bestimmt Probleme gegeben.»
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