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Genozide lassen sich verhindern

Ruander legen die Schädel von mehreren Hundert Tutsis in Säcke, zur Erinnerung an 12'000 Tutsi, die 1994 von Milizen der Hutu massakriert wurden. Reuters

"Menschen sind vorprogrammiert für Massenmord", sagt Yehuda Bauer, Professor für Holocaust-Studien am Avraham Harman Institut für das Judentum der Gegenwart an der Hebräischen Universität Jerusalem. Er sieht sich als "realistischen Optimisten".

Bauer war einer von vielen Experten am dritten regionalen Forum zur Genozidprävention, das in Bern abgehalten wurde und zusammen mit den Aussenministerien von Argentinien und Tansania organisiert wurde.

In seiner Eröffnungsrede sagte Peter Maurer, der Staatssekretär des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten, Genozid sei die schlimmste Menschenrechtsverletzung, und dass trotz grosser regionaler Anstrengungen viel zu tun bleibe, Völkermorde in Zukunft zu verhindern. Er sagte, dass Entscheidungen und Massnahmen oft viel zu spät getroffen werden.

swissinfo.ch: Sie sagen, dass seit dem 2. Weltkrieg 55 Fälle von Genozid verübt wurden. Zehn Millionen Menschen waren die Opfer. Wird es jemals möglich sein, Genozide zu verhindern?

Yehuda Bauer: Es ist möglich, weil Menschen Konfliktfähigkeit mitbringen. Auf der einen Seite kann man sagen, dass wir für Massenmord vorprogrammiert sind. Massenmorde gibt es seit Urzeiten. Auf der anderen Seite – weil wir in Horden leben, ob man es nun Clans, Stämme, Nationen, Ethnien nennen will – haben wir die Fähigkeiten für Sympathie, Liebe und Zusammenarbeit entwickelt. Diese zwei Grundbedingungen der Menschwerdung stehen sich die ganze Zeit gegenüber.

Also ist es möglich, Genozid, zu verhindern, aber es ist extrem schwierig, weil wirtschaftliche und politische Interessen aufeinandertreffen. Fortschritte wurden gemacht, ohne Zweifel. Das internationale Gesetz wurde entwickelt. Drei oder vierhundert Jahre früher hätte eine solche Konferenz nicht stattfinden können. Es hat niemanden gekümmert, wenn Millionen von Menschen ums Leben kamen.

Andererseits hat es zu wenig Fortschritt gegeben. Wenn wir nicht versuchen, sie in vorhersehbarer Zukunft zu verhindern, werden bestimmt noch mehr Genozide stattfinden. Verhütung entsteht nicht von einem Tag auf den andern, es ist ein Prozess, der unvermeidbare Wellenbewegungen wirft, aber immerhin ist es eine Möglichkeit.

swissinfo.ch: Peter Maurer sagt, eine Errungenschaft eines solchen Forums ist, dass die Schwelle, darüber zu sprechen, gesenkt wird und die internationale Verantwortung, Genozide zu verhindern, steigt. Was hat er damit gemeint?

Y.B.: Heute kann man darüber reden und Antworten erhalten. Das konnte man vor zwei Generationen noch nicht. Ich glaube, die Schweiz ist führend in diesem Punkt. Die Schweiz ist nicht Mitglied der Europäischen Union und braucht nicht 27 Aussenminister, um eine Entscheidung zu fällen.

Die Führung der Schweiz als die eines neutralen Staates ist kritisch und hat keine hauptsächlich wirtschaftlichen Interessen in Asien, Afrika oder wo auch immer.

Es ist sehr wichtig, dass ein Land wie die Schweiz die Führung übernimmt. Ein kleines Land kann die Vereinten Nationen und den Sicherheitsrat durch Allianzen mit anderen Staaten beeinflussen.

swissinfo.ch: Welche Lektionen lernen wir heute aus dem Holocaust?

Y.B.: Der Holocaust ist die Grundlage der Forschung, weil er der extremste Fall von Völkermord war bis jetzt. Nicht, weil die Juden mehr gelitten haben als andere, aber weil die Idee war, ein ganzes Volk ohne Ausnahme zu ermorden, bis zum letzten Menschen. Das hat es so noch nie gegeben.

Nach dem Holocaust war den Leuten bewusst, dass sie etwas tun müssen. Die Konvention zur Verhütung und Bestrafung für das Verbrechen Völkermord von 1948 entstand aufgrund des Holocausts und dem Völkermord an den Polen. Die Konvention betrifft “ganzen oder teilweisen” Völkermord. Der “ganze” war der an den Juden und der “teilweise” war der an den Polen. Der Holocaust ist der Ausgangspunkt, auf dem die heutigen Diskussionen stattfinden.

swissinfo.ch: Wenn ich mit Ihnen spreche, weiss ich nicht, ob ich nun optimistisch oder pessimistisch sein soll. Was sind Sie?

Y.B.: Wenn ich kein Optimist wäre, würde ich diese Arbeit nicht machen. Aber ich bin ein sehr realistischer Optimist, deshalb erkenne ich die grosse Gefahr. Der Genozid von Darfur wurde nicht verhütet, weil China das Veto einlegte. Es war nicht ein eigentliches Veto, aber sie sagten, sie würden ein Veto einlegen, wenn andere Staaten etwas gegen das Sudanesische Regime unternehmen würden. Warum? Weil China Interesse am dortigen Öl hat und weil sie gegen einen Eingriff in die Souveränität anderer Staaten hatten. Das ist, weil sie nicht wollen, dass jemand in ihre Souveränität eingreift.

Die Frage nach staatlicher Souveränität und dem multinationalen Eingreifen ist immer noch ungelöst. Man sieht es im Nahen Osten, in Israel, an andern Orten: “Wir bestehen auf unserer Souveränität”, sagen sie. Das ist ganz falsch. Souveränität hat ihre Grenzen. Wenn man unverantwortlich handelt, sollte jemand von aussen dies stoppen. Nicht militärisch, sondern mit anderen Mitteln.

Yehuda Bauer ist emeritierter Professor für Geschichte und Studien zum Holocaust am Avraham Harman Institut für das Judentum der Gegenwart an der Hebräischen Universität von Jerusalem. Er ist wissenschaftlicher Berater von Yad Vashem, dem Holocaust-Erinnerungszentrum. Yad Vashem betreibt auch ein Bildungs- und Forschungsinstitut.

Bauer wurde 1926 in Prag geboren. Seine Familie migrierte 1939 nach Israel.

Er doktorierte 1960 über das britische Mandat über Palästina.

1961 begann er am Institut für das Judentum der Gegenwart an der hebräischen Universität Jerusalem zu unterrichten. Er war der Gründer und Herausgeben des “Journal of Holocaust und Genocide Studies”.

1968 wurde er mit dem Israel-Preis ausgezeichnet, der grössten zivilen Ehrung in Israel. 2001 wurde er Mitglied der israelischen Akademie der Wissenschaften.

(…) Unter Genozid versteht man ein der folgenden Handlungen, begangen mit der Absicht, eine Nation, eine Ethnie, eine Rasse oder eine religiöse Gruppe als Ganzes oder teilweise auszulöschen:

a)  Mitglieder der Gruppe zu töten

b)  Einer Gruppe ernsthaften körperlichen oder psychischen Schaden zuzufügen

c)  Die Gruppe absichtlich Lebensbedingungen aussetzen, die physisch ganz oder teilweise umbringen

d)  Der Gruppe Massnahmen auferlegen, die Geburten verhindern

e)  Der Gruppe gewaltsam Kinder wegnehmen und sie zu einer andern Gruppe bringen

(Quelle: Konvention zur Verhütung von Genozid und zur Bestrafung des Verbrechens des Völkermords, 1948)

Das dritte regionale Forum zur Genozid-Prävention fand vom 4. Vis 6. April in Bern statt.

Die Hauptthemen waren:

Wie kann Genozid verhindert werden?

Welche Rolle und Verantwortung haben Staaten und nicht-staatliche Akteure?

Wie können Staaten den Schutz der Zivilbevölkerung garantieren?

Welche Lehren können aus der Vergangenheit gezogen werden?

(Übertragung aus dem Englischen von Eveline Kobler)

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