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Libanon erneut am Rand des Abgrunds

Schiitische Amalmiliz im Quartier Corniche al Mazra in Beirut, einem der meist umkämpften Quartiere der Stadt.

Als Antwort auf das Verbot des Hisbollah-Telekommunikationsnetzes durch die libanesische Regierung haben die schiitischen Milizen innert 48 Stunden die regierungstreuen paramilitärischen Sunniten-Milizen überrannt.

Nach der Verschärfung der Situation empfiehlt die Schweizer Botschaft in Beirut den rund 800 Schweizerinnen und Schweizern im Land, nicht auszugehen und zu Hause zu bleiben. Dies nachdem die Kämpfe zwischen Milizen der Opposition und der Regierung im Herzen der Hauptstadt eskaliert sind.

“Die Lage entwickelt sich in unseren Augen als sehr gefährlich”, sagt François Barras, seit zwei Jahren Schweizer Botschafter in Libanon. “Unser Hauptinteresse gilt der Sicherheit unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger. Wir bereiten uns auf alle Eventualitäten vor.”

Nach fünf Monaten politischer Blockade, in der es Regierung und Opposition nicht gelang, sich über die Wahl eines Staatspräsidenten zu einigen, hat sich die Situation seit Mittwoch drastisch verschlechtert.

Nach 48 Stunden Auseinandersetzungen in Beirut haben die Kämpfer der schiitischen Hisbollah und der Amal-Miliz, die zum Oppositionsbündnis des Christen Michel Aoun gehören, die Milizen des Sunniten Saad Hariri, ein wichtiger Führer in der Regierungsmehrheit, besiegt. Die vorläufige Bilanz: Rund 20 Tote und Dutzende Verletzte.

Die Hisbollah hat jedoch kein Land besetzt. Dies steht im Widerspruch zur These, sie hätte einen Staatsstreich durchgeführt. Die schiitischen Milizen haben sich darauf beschränkt, das Einflussgebiet und die Stützpunkte der paramilitärischen Formationen von Saad Hariri “zu säubern”. Weiter wollte die Hisbollah wohl auch verhindern, dass sich die libanesische Armee in den Konflikt einmischt.

Rote Linie überschritten

Wie ist es dazu gekommen? Zwei am Dienstagabend verkündete Entscheidungen der Regierung Siniora haben das Fass zum Überlaufen gebracht.

Zum einen hat die Regierung angekündigt, den schiitischen Sicherheitsverantwortlichen des Flughafens abzulösen, weil er Spionage für die Hisbollah betrieben hätte. Die rote Linie überschritten hat sie jedoch mit dem Beschluss, das Telekommunikationssystem der Schiiten als illegal zu bezeichnen.

Für die Hisbollah ist das Telekommunikationssystem ein Teil ihrer Verteidigung gegen den Staat Israel. Hassan Nasrallah hat darauf die Blockierung des Flughafens angeordnet, um die Rücknahme dieser beiden Entscheidungen zu erzwingen. Dann wurde die Offensive gegen die Miliz von Saad Hariri lanciert.

Stellt sich die Frage, weshalb die Regierung Siniora diese zwei Entscheidungen getroffen hat, da sie sich über deren explosive Potentiale eigentlich hätte bewusst sein sollen. War es eine Panikreaktion angesichts der wachsenden sozialen Spannungen oder ein Versuch, die Situation mit einer Machtdemonstration zu entschärfen?

Militär greift ein

Das libanesische Militär hat am Samstag die beiden gegen die Hisbollah gerichteten Entscheidungen der Regierung zurückgenommen. So behält der umstrittene Flughafen-Sicherheitschef seinen Posten. Zudem werde mit dem Hisbollah-Telekommunikationsnetz derart verfahren, dass “das öffentliche Interesse und die Sicherheit” nicht gefährdet würden.

Darauf hat die schiitische Hisbollah-Miliz den Rückzug ihrer Kämpfer aus ihren Stellungen in Beirut angekündigt. Sie kam damit einer Aufforderung der libanesischen Armeeführung nach.

Die Kampagne des zivilen Ungehorsams werde aber fortgesetzt, bis alle Forderungen erfüllt seien, hiess es in einer Erklärung weiter, die vom Sender der Miliz verbreitet wurde.

Verhandlungen, Verhandlungen, …

“Man gewöhnt sich fast an einen Absturz, aber es könnte noch Monate dauern”, sagt François Barras angesichts der nicht enden wollenden Verhandlungen, die nach den Wahlen keine stabile Regierung zulassen, der kraftlosen arabischen Bemühungen, der schlecht geleiteten europäischen Rettungsaktionen.

Zwar waren sich Regierung und Opposition einig über die Präsidentschafts-Kandidatur des Armeechefs Michel Sulaiman. Die Opposition forderte jedoch im Vorfeld einen Drittel der Kabinettsposten in der libanesischen Regierung. Damit hätten die Hisbollah und ihre Verbündeten ein Vetorecht gehabt. Dies waren für die Regierung Siniora inakzeptable Bedingungen.

Grosses Regionenspiel

Schon seit Monaten versuchen die Vereinigten Staaten die Regierung Siniora zu beeinflussen, obwohl diese illegitim ist und nicht der Verfassung entspricht. Sie ermutigen diese, keine Konzession an die Opposition zu machen.

Wegen ihres Streites mit den Schiiten in Iran weigern sich die USA, den Gesinnungsgenossen ihres Hauptfeindes in der Region ein Mitspracherecht in libanesischen Angelegenheiten zu gewähren. Zudem möchten die USA in der Regierung Libanons einen “Freund” haben, den man davon überzeugen kann, die palästinensischen Flüchtlinge dauerhaft auf seinem Boden zu akzeptieren.

Am anderen Ende des Spektrums sehen Iran und Syrien keinen Grund, mit ihrem Einfluss die Hisbollah kompromissbereiter zu stimmen. Die beiden Länder befürchten nämlich, nicht ohne guten Grund übrigens, dass eine USA-nahe Regierung Libanon in einen amerikanischen Flugzeugträger verwandeln könnte.

Das Schicksal Libanons ist nach allen Richtungen offen. Das Schlimmste wäre, wenn die christlichen Regionen, die bisher von den Kämpfen verschont blieben, in die Gewaltspirale hineingezogen würden.

Die nächsten Tage werden entscheidend sein. Zweifellos müssen sich alle Parteien von ihren “externen” Freunden emanzipieren, damit den Libanesen in ihrem Land ein weiteres Blutbad erspart bleibt.

swissinfo, Pierre Vaudan in Beirut
(Übertragung aus dem Französischen und Adaption: Etienne Strebel

Die Schweiz ist sehr besorgt über die Auseinandersetzungen in Libanon, die am Donnerstag und Freitag zwischen regierungsnahen Milizen und der schiitischen Bewegung Hisbollah stattgefunden haben. Sie appelliert an alle Parteien, die Gewalt zu beenden und den Dialog wieder aufzunehmen.

“Das EDA fordert alle Parteien auf, jegliche Gewaltakte zu unterlassen und unbeteiligte Zivilpersonen zu schützen” heisst es in einer Pressemitteilung des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten vom Freitagabend.

Die Schweiz fordert, “ohne Verzug und ohne Vorbedingungen den politischen Dialog wieder aufzunehmen und auf friedliche Art einen für alle Seiten annehmbaren Ausweg aus der gegenwärtigen Krise zu suchen.”

Seit dem Krieg vom Sommer 2006 zwischen Israel und der Hisbollah rät das EDA von Touristen- und anderen nicht dringenden Reisen nach Libanon ab.

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