«Niemand hat Anspruch auf die Wahrheit»

Eine der ältesten, fast vergessenen protestantischen Kirchen der Schweiz steht dieses Jahr im öffentlichen Rampenlicht und muss sich in dieser neuen Rolle zurechtzufinden.
Ein Besuch im Jura, wo kleine Mennoniten-Gemeinden Jahrhunderte der Verfolgung überlebt haben, zeigt, vor welchen Herausforderungen Täufer stehen, um die Schatten der Vergangenheit zu überwinden.
Mit dem Entscheid, das Täuferjahr 2007 zu unterstützen, setzen die Behörden des Kantons Bern ein Zeichen. Denn ein zentraler Aspekt vieler Gedenk-Veranstaltungen sind die jahrhundertelangen Verfolgungen durch Kirche und Staat, denen die Täufer, heute meist als Mennoniten bekannt, ausgesetzt waren.
Zu den Höhepunkten des Täuferjahrs 2007 gehören historische Ausstellungen über den radikalsten Flügel der Schweizer Reformation, Aufführungen, ein internationales Treffen und Touren durch das Emmental und den Jura, die beiden Regionen, wo die Bewegung einst grossen Widerhall gefunden hatte.
Nach Angaben des Mennoniten Pierre Zürcher, pensionierter Bauer und Amateur-Historiker, habe das Interesse am Besuch von Täufer-Lokalitäten im Westen der Jurakette in den letzten Monaten stark zugenommen.
Dieses Jahr seien es nicht in erster Linie Mennoniten oder Amische aus Nordamerika, die etwas über das harte Leben ihrer Vorfahren lernen wollten, sondern Angehörige der offiziellen evangelischen Kirche der Schweiz.
Den Besuchern zeigt man die zerfallenen Überreste der «Täufer-Brücke», die sich hier einst über eine grüne Schlucht schwang. Hier kamen die Täufer in früheren Zeiten zu geheimen Gottesdiensten zusammen. Noch heute strahlt der Ort eine spirituelle Ruhe aus.
Viele der verfolgten Täufer waren in den Jura, ins französische Elsass und ins deutsche Rheinland-Pfalz geflüchtet. Hier wurde – anders als etwa von der damaligen Berner Obrigkeit – ihr unerschütterlicher Glaube an die Erwachsenen- statt die Kindertaufe und an die strikte Trennung von Kirche und Staat toleriert.
Lang anhaltende Furcht
Aufgrund seiner eigenen Erfahrung sagt Zürcher, die Mennoniten seiner Gemeinde hätten sich noch so lange vor erneuter Verfolgung gefürchtet, dass sie sich bis in die 1970er-Jahre dagegen gewehrt hatten, Mitgliederlisten zu erstellen.
In der Jeangui-Kappelle auf der andern Talseite befindet sich eine kleine Ausstellung zur Geschichte der Täufer. Daneben gibt es eine unbezahlbare Sammlung seltener Bücher und Dokumente, darunter eine Froschauer-Bibel, die erste deutsche Bibel, die noch ein paar Jahre älter ist als Luthers Version.
Ein Familienbaum zeigt zudem, wie wenige von Zürchers Vorfahren aus dem 18. Jahrhundert dem Drang widerstanden, nach Nordamerika auszuwandern. Von den weltweit etwa 1,5 Millionen Mennoniten leben heute nur rund 2500 in der Schweiz.
Sie sind auf 14 Gemeinden aufgeteilt, die in der Konferenz der Mennoniten der Schweiz (KMS) zusammengeschlossen sind. Gemeinsame Anliegen werden alle paar Wochen vom KMS-Vorstand erörtert.
Szenenwechsel nach Brügg bei Biel
Der Kirschbaum, der vor dem Fenster des Konferenzzimmers in Brügg bei Biel steht, hängt voller reifer Früchte, Vogelgezwitscher begleitet die Diskussion hier am Jurafuss. Es mag zwar Jahrhunderte gedauert haben, doch jetzt ist die Zeit der Schweizer Täufer gekommen.
Die meisten Themen, die erörtert werden, sind Routinefragen, wie die Versicherungen für Missionare oder die Leitung von Jugendorganisationen. Gleichzeitig wird mit swissinfo offen über die Bedeutung gesprochen, die das Täuferjahr für die Religionsgemeinschaft hat.
«Wir werden nicht mehr ignoriert, sind zu einem gängigen Partner im Dialog mit andern Kirchen geworden», erklärt Erwin Röthlisberger von der Berner Gemeinde. «Es ist für mich persönlich dennoch recht ausserordentlich, von der offiziellen protestantischen Kirche eingeladen zu werden, über das Täufertum zu sprechen und bei einem ihrer Gottesdienst mitzumachen. Noch vor 20 Jahren wäre so etwas nie möglich gewesen.»
Kontroverse Themen
Was aktuelle Fragen wie Abtreibung und gleichgeschlechtliche Ehen angeht, gibt es bei den Mennoniten keine einheitliche Botschaft. «Es droht die Gefahr, dass wir bei kontroversen Themen sehr verschiedene Ansichten vertreten. Die Herausforderung ist dann, weiterhin miteinander sprechen zu können», sagt Paul Gerber, Präsident der Konferenz und Vertreter der Gemeinden aus dem Jura.
«Unserer Ansicht nach hat niemand Anspruch auf die Wahrheit», fügt Madeleine Bähler aus Basel hinzu. «Die Bibel wurde für alle ausgelegt, inspiriert vom heiligen Geist. Daher müssen wir damit leben, dass es zahlreiche Interpretationen gibt. Wir erwarten nicht, dass es innerhalb der Kirche zuoberst jemanden gibt, der das letzte Wort hat.»
Daniel Geiser, auch er aus dem Jura, weist darauf hin, dass die Bedeutung der Täufer nicht erst in den letzten Monaten gewachsen sei, sondern dass ihre Botschaft seit einiger Zeit im Stillen Einfluss gehabt habe auf andere protestantische Kirchen.
Ein Beispiel: «Nur sehr wenige praktizierten vor 100 Jahren die Erwachsenentaufe. Heute aber unterstützen die meisten Freikirchen diese Praxis», sagt Geiser. «Das ist eine sehr positive Entwicklung.»
swissinfo, Dale Bechtel, Sonceboz-Sombeval und Brügg
(Übertragen aus dem Englischen: Rita Emch)
Im Kanton Bern und in andern Regionen der Nordwestschweiz wird im Täuferjahr 2007 mit zahlreichen Veranstaltungen an das Schicksal und die Verfolgung der Bewegung erinnert.
Zu den bedeutenden Sehenswürdigkeiten im Jura gehören die «Täufer-Brücke» oberhalb des Dorfes Corgémont und die Archive in der Jeangui-Kapelle, die der Sonnenberg-Gemeinde gehört.
Vom 26. bis 29. Juli finden im Emmental die internationalen Täufertage statt.
Nach der Niederschlagung des Bauernkriegs 1525 wurde das Täufertum zum Sammelbecken von Gläubigen, welche sich in ihrem Bemühen um Wiederherstellung eines «wahren Christentums» für eine radikalere Reform einsetzten.
1535 sammelte der ehemalige katholische Priester Menno Simons die niederländischen und norddeutschen Taufgesinnten oder Mennoniten um sich.
Heute sind in der Schweiz 14 Gemeinden in der «Konferenz der Mennoniten der Schweiz» vereint, die rund 2500 Mitglieder zählen. Weltweit gibt es rund 1 Mio. Mennoniten.

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