Wie die evangelikale Konferenz von Lausanne den protestantischen Glauben veränderte
1974, mitten im Kalten Krieg, fand in Lausanne der Internationale Kongress für Weltevangelisation statt. Damals versammelten sich führende Persönlichkeiten von Kirchen und Freikirchen aus 150 Ländern und entwarfen eine evangelikale Theologie, welche die Vorherrschaft des Globalen Nordens in Frage stellte. Die Rolle des Christentums in Lateinamerika, Afrika und Asien wurde dadurch neu definiert.
Für einige Tage im Sommer 1974 wurde die Stadt Lausanne zum Zentrum der christlich-evangelikalen Welt. Am Ufer des Genfersees entstand die so genannte Lausanner VerpflichtungExterner Link – ein Dokument, das die evangelikale Theologie durch die Vereinigung von Glauben und sozialer Verantwortung prägen sollte.
Ein halbes Jahrhundert später spaltet das Erbe dieses Kongresses weiterhin die evangelikale Bewegung. Auf der einen Seite stehen diejenigen, die den Glauben als Verpflichtung zur sozialen Transformation verstehen. Eine Ansicht, die vor allem in Ländern des Globalen Südens verbreitet ist.
Auf der anderen Seite steht das Selbstverständnis der traditionellen Evangelisation, die sich auf individuelle Bekehrung und ihre missionierende Aufgabe konzentriert. Diese Position findet sich vor allem im Globalen Norden.
«Vielleicht war der Lausanner Kongress das erste Anzeichen dafür, dass innerhalb konservativer protestantischer Kreise die amerikanische Dominanz sowohl in personeller als auch in inhaltlicher Hinsicht ernsthaft in Frage gestellt wurde. Der Kongress hat die Debatte jedoch nur angestossen, den Konflikt aber nicht gelöst. Die Diskussion dauert bis heute an», sagt Brian StanleyExterner Link, emeritierter Professor für Weltchristentum an der Universität Edinburgh (Schottland).
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Die Schweiz im Zentrum der Welt
Die Wahl von Lausanne als Veranstaltungsort hatte eine Symbolik, die über die Religion hinausging. Gemäss der offiziellen Begründung handelte es sich um einen «Ort des Friedens und einen neutralen Boden im Herzen Europas».
Darüber hinaus aber war wichtig, dass Lausanne nur wenige Kilometer von Genf entfernt ist, wo der Ökumenische Rat der KirchenExterner Link (ÖRK) seinen Sitz hat. Diese interkonfessionelle Organisation vereint eine Gemeinschaft von 356 Kirchen aus mehr als 120 Ländern.
Der Lausanner Kongress war somit auch eine politische Geste. Er unterstrich die wachsende theologische und institutionelle Unzufriedenheit mit dem Kurs des ÖRK, besonders mit dessen zunehmend liberalem politischen Engagement und dem als nachlassend empfundenen Engagement für die traditionelle Evangelisation.
Der Veranstaltungsort stand für die Durchsetzung einer protestantischen Strömung, welche die Autorität traditioneller ökumenischer Institutionen in Frage stellte und eine Neuausrichtung der spirituellen Achse des Westens, vor allem der Vereinigten Staaten und Europas, in Richtung des Globalen Südens anstrebte.
Stanley sagt, dass mehrere Orte vorgeschlagen wurden, aber die Symbolik von Lausanne überwog. So kamen schliesslich etwa 2400 Teilnehmer:innen aus 150 Ländern zusammen.
«Die Briten wollten etwas Einfaches und Kostengünstiges, wie ein Ferienlager, aber die Amerikaner lehnten dies ab. Rom wurde in Betracht gezogen, aber aus offensichtlichen Gründen schnell wieder verworfen, ebenso wie Amsterdam, Stockholm und Brüssel», sagt er.
«Ich vermute, dass Lausanne gewählt wurde, um ein klares Signal an den Ökumenischen Rat der Kirchen in Genf zu senden, wonach weite Teile der globalen protestantischen Gemeinschaft dessen Führung nicht anerkannten.»
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Die Lausanner Bewegung
Die Debatten, Gebete und theologischen Reflexionen dauerten zehn Tage. Die christlichen Führungspersönlichkeiten diskutierten über die Rolle des Glaubens in einer sich wandelnden Welt, und dies in einem neutralen Land, das als Brücke zwischen Ost und West diente und in diesem Moment einen symbolhaften Zufluchtsort für spirituelle Auseinandersetzungen bot.
Inmitten der Spannungen des Kalten Kriegs und der Zeit nach 1968, die weltweit politische, soziale und kulturelle Normen auf den Kopf stellte, definierte der Kongress den Begriff der christlichen Mission neu.
Aus dem Treffen in der Schweiz ging die Lausanner BewegungExterner Link hervor, ein globales Netzwerk, das religiöse Führungspersonen, Forschende und Organisationen unter dem Gedanken eines engagierten, transnationalen und politisch bewussten Glaubens verbindet.
Die Bewegung, die sich um regionale und thematische Initiativen herum strukturierte, überschritt die Grenzen Europas und Nordamerikas und festigte ihren Einfluss namentlich im Globalen Süden, wo der Protestantismus neue Wege der Ausbreitung zwischen Kirchen und Armenvierteln fand.
In den folgenden Jahrzehnten nahmen diese Gegensätze neue Formen an. Es entstanden hauptsächlich drei unterschiedliche und manchmal konkurrierende Visionen davon, was es bedeutet, «das Evangelium zu leben».
Eine konzentrierte sich auf Evangelisation und Bekehrung, was in den US-Missionen nach wie vor stark ausgeprägt ist; eine andere auf sozialen Wandel, der von Kirchen in Lateinamerika und Afrika vertreten wird; eine dritte, das Wohlstandsevangelium, das göttliche Gunst mit materiellem Erfolg verbindet – und sich derzeit weltweit ausbreitet.
Die Lausanner Verpflichtung
Das nachhaltigste Ergebnis des Kongresses war die «Lausanner Verpflichtung», die von einem Ausschuss unter der Leitung des britischen Theologen John Stott ausgearbeitet wurde und von der lateinamerikanischen und afrikanischen Sichtweisen beeinflusst war.
Gemäss diesem Leitdokument sollen christliche Mission Evangelisation und soziale Verantwortung miteinander verbunden werden. Es stellte einen Bruch mit dem bis dahin vorherrschenden, rein missionarischen Ansatz dar.
Dieser Vorschlag – später als «Integrale Mission» bekannt geworden – wurde von lateinamerikanischen Theologen wie René Padilla und Samuel Escobar geprägt, die ihn an die Realitäten von Armut, Militärdiktaturen und Ungleichheit in Lateinamerika anpassten.
Laut Samuel Araújo, Doktorand der Religionswissenschaften an der katholisch-vatikanischen Universität von São PaoloExterner Link (PUC-SP) in Brasilien, versuchte die Integrale Mission, dieselben Themen anzusprechen wie die katholische Befreiungstheologie, die Ende der 1960er-Jahre in Lateinamerika als Bewegung innerhalb der katholischen Kirche entstand und das Evangelium aus der Perspektive der Armen interpretieren wollte.
Unter dem Einfluss von sozialen Analyseinstrumenten des marxistischen Denkens nutzten viele ihrer Befürworter:innen den Klassenkampf als ideologischen Rahmen, um Ungleichheit zu verstehen.
Aus diesem Grund kam die Kritik auf – besonders aus konservativen Kreisen –, dass die Bewegung versuche, die Religion zu politisieren und das Christentum mit linken Ideologien in Einklang zu bringen.
«In diesem Sinn fungiert die Lausanner Bewegung als Katalysator. Der eigentliche Motor der Integralen Mission war aber der Gedankenaustausch mit Ideen aus Lateinamerika», sagt Araújo.
Die Lausanner Bewegung war entscheidend für den lateinamerikanischen Protestantismus, der eine eigenständige Identität suchte, die weder den theologischen Ansichten des Nordens untergeordnet noch vom katholischen Sozialdenken abhängig war.
Die Integrale Mission bot somit eine Alternative, namentlich einen engagierten Glauben, der in der biblischen Sprache verwurzelt war, sich aber zugleich mit den Realitäten am Rand der Gesellschaft auseinandersetzen konnte.
Gemäss Humberto Ramos, Religionswissenschaftler und Soziologe an der Universität São CarlosExterner Link in Brasilien, brachten Escobar und Padilla die theologische Lebendigkeit Lateinamerikas nach Lausanne, ohne dabei den evangelikalen Schwerpunkt des Kongresses aus den Augen zu verlieren.
«Sie hatten verstanden, das zentrale Ziel des Kongresses anzuerkennen: die Bekräftigung des Engagements für die Weltevangelisation und den missionarischen Eifer. Doch sie definierten das Ziel neu und weiteten es aus. Sie argumentierten, dass die Evangelisierung der Welt Gerechtigkeit und sozialen Wandel als integrale und untrennbare Bestandteile dieser Mission beinhalten muss», sagt Ramos.
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Spaltung hält an
Die Lausanner Verpflichtung führte zu Spannungen, nachdem konservative und auf Wohlstand ausgerichtete evangelikale Bewegungen an Boden gewannen.
Philippe GonzalezExterner Link, Dozent an der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Lausanne, sagt: «Die von René Padilla und Samuel Escobar vertretene Vision einer integralen Mission wurde von den meisten amerikanischen Führern innerhalb der evangelikalen Bewegung nicht gut aufgenommen.»
Fachleute sind sich einig, dass Lausanne nicht nur ein religiöser Kongress war, sondern der Beginn einer globalen Debatte über die Bedeutung des Glaubens in der modernen Welt, besonders für Theologinnen und Theologen aus Afrika, Lateinamerika und Asien.
«Die Mehrheit der evangelikalen Kirchen auf diesen drei Kontinenten verstand die Lausanner Verpflichtung als Zeichen, dass die Evangelikalen der nördlichen Hemisphäre endlich bereit waren anzuerkennen, dass ‘soziale Verantwortung’ nicht nur eine Ergänzung zum Evangelium darstellt, sondern ein integraler Bestandteil davon ist», sagt Stanley von der Universität Edinburgh.
Die Reaktion konservativerer protestantischer Kreise innerhalb der Lausanner Bewegung hallt jedoch bis heute nach. Spätere Zusammenkünfte – wie der Kongress von Manila 1989 und der Kongress von Kapstadt 2010 – spiegelten eine erneute Betonung traditioneller Evangelisation und moralischer Fragen wider, was auf den anhaltenden Einfluss des Globalen Nordens hindeutet.
Während die Lausanner Verpflichtung Raum für einen sozial engagierten Glauben geschaffen hatte, lenkten nachfolgende Treffen die Bewegung oft wieder zurück zu Themen wie Bekehrung, orthodoxem Glauben und traditioneller Mission.
Dies zeigt, dass die Spannung zwischen sozialer Transformation und doktrinärer Reinheit nach wie vor nicht überwunden ist.
Brian Stanley ist überzeugt, dass Lausanne auch nach 50 Jahren noch immer das zentrale Dilemma des globalen Christentums widerspiegelt, einer Bewegung, die im Namen der Einheit entstanden ist, aber durch Glauben, Politik und Macht gespalten ist.
Editiert von Virginie Mangin/ts, Übertragung aus dem Englischen mithilfe von Deepl: Gerhard Lob/raf
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