«Die Schweiz kommt ihren Verpflichtungen noch zu wenig nach»
Die Schweiz hat die Behindertenrechtskonvention 2014 in New York ratifiziert und sich damit unter anderem verpflichtet, die Inklusion von Menschen mit kognitiven Behinderungen in der Gesellschaft zu fördern. Wie Inklusion konkret aussehen könnte, zeigt ein Musikfestival in Zürich.
Inklusion von Menschen mit kognitiven Behinderungen
Inklusion bedeutet, dass Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen als gleichwertige Mitglieder am gesellschaftlichen Leben teilhaben und ihre Andersartigkeit als Bereicherung empfunden wird.
Der Saal in der Roten Fabrik ist voll. Die Stimmung bombig. Das Publikum klatscht, singt mit und jubelt. Auf den ersten Blick ein ganz normales, äusserst gelungenes Musik-Festival.
Auf den zweiten Blick zeigt sich: Sowohl im Publikum als auch auf der Bühne singen, feiern und applaudieren Menschen mit und ohne geistige Beeinträchtigung nebeneinander und miteinander.
Die hierzulande berühmte Schweizer Sängerin Vera KaaExterner Link singt unter anderem davon, dass man sich einfach mal zehn Minuten Zeit für sich selbst nehmen sollte.
Die Band «Tobis WeltExterner Link» erzählt in schmissigen Mundart-Liedern vom Alltag in einem Heim, zum Beispiel davon, dass man nur auf dem WC mal seine Ruhe hat, vom Besuch beim «Zahnarsch» oder den Ferien in Saas Fee, die man gerne mal zu zweit ganz allein verbracht hätte – ohne nervige Betreuer, die im dümmsten Moment hereinplatzen.
Dass Vera Kaa und «Tobis Welt» nacheinander auf der Bühne stehen, versinnbildlicht «Inklusion»: Menschen mit und ohne Behinderung nehmen gleichberechtigt teil am kulturellen Leben. Das fordert auch die UNO-BehindertenrechtskonventionExterner Link, welche die Schweiz 2014 ratifiziert hat.
Das «Soundsyndrom!-FestivalExterner Link«, das bereits zum zweiten Mal in Zürich stattfand, ist bisher allerdings die Ausnahme. Die Schweiz steht beim Thema Inklusion von Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen nicht gut da.
Das Tobias-HausExterner Link in Zürich ist eine anthroposophische Institution, die Wohnhäuser und eine Tagesstätte für erwachsene Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen betreibt. Die Stiftung legt Wert auf ein breites Kunst- und Bildungsangebot. Sie hat das 2. Soundsyndrom!-Festival am 6. Oktober 2019 in der Roten Fabrik in Zürich organisiert.
«Die Schweiz kommt ihren Verpflichtungen aus der Behindertenrechtskonvention noch zu wenig nach», sagt Andrea Brill vom Tobias-HausExterner Link, einem anthroposophischen Wohnheim für Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung (siehe Box), das den Anlass organisiert hat.
Die Schweiz muss sich verbessern
Tatsächlich steht im SchattenberichtExterner Link zur Umsetzung der Behindertenrechtskonvention in der Schweiz: «Eine inklusive Schweiz, in der Menschen mit Behinderungen in allen Lebensbereichen selbstbestimmt leben können, liegt trotz teilweise bestehender Rechtsgrundlagen noch in weiter Ferne.» Sogar der Bundesrat räumt VerbesserungspotenzialExterner Link bei der Teilhabe von Menschen mit Behinderungen in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens ein.
Kritiker monieren beispielsweise, dass behinderte Kinder in Sonderschulen gesteckt werdenExterner Link oder Erwachsene mit einer geistigen Beeinträchtigung kein Stimm- und Wahlrecht haben. Auch können nach Angaben von BehindertenorganisationenExterner Link viele Erwachsene mit geistiger Behinderung nicht selber Arbeitsplatz und Wohnort wählen.
Laut Andrea Brill sind andere Länder zudem bei der «Subjektfinanzierung» bereits viel weiter. «Subjektfinanzierung» bedeutet, dass der Staat nicht den Heimen und Institutionen Geld gibt, sondern den Menschen mit einer Beeinträchtigung direkt einen Betrag zur Verfügung stellt. Die betroffene Person kann dann selbst entscheiden, ob sie in einem Wohnheim, einer betreuten Wohngemeinschaft oder allein mit Hilfe eines Assistenten leben möchte.
Wo sind all die Behinderten hin?
Früher haben manche Familien in der Schweiz ihre geistig behinderten Angehörigen richtiggehend versteckt, weil sie sich ihrer schämten. Oder sie waren zwar gut integriert, wurden aber nicht respektiert und auf Augenhöhe behandelt, sondern «als Dorftrottel belächelt», wie Brill es ausdrückt. Später wurden Heime gegründet, wo Behinderte professionell betreut werden.
Obwohl Andrea Brill selbst in einem solchen Wohnheim für Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen arbeitet und Heime grundsätzlich als wichtiges Angebot bezeichnet, sieht sie doch einen grossen Nachteil: «Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung werden aus dem Alltag der Gesellschaft und der Öffentlichkeit entzogen; durch die Heime entsteht eine Art Parallelgesellschaft. Ähnlich wie bei betagten oder sterbenden Menschen.»
Die Mehrheitsgesellschaft ist dadurch den Anblick von Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen immer weniger gewöhnt. Viele Menschen «verlernen» den Umgang und die Kommunikation mit geistig Behinderten. Es besteht die Gefahr, dass am Ende nur noch deren «Defizite» wahrgenommen werden und sie als Belastung für die Gesellschaft – vor allem in finanzieller Hinsicht – gelten.
Andrea Brill könnte sich vorstellen, dass das Verstecken von Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung «in nicht allzu ferner Zukunft» wieder ein Thema wird: «Die Frühdiagnostik ermöglicht es, Babys mit einer Behinderung abzutreiben. Ich kann mir gut vorstellen, dass Krankenkassen sich früher oder später weigern, für ein behindertes Kind zu zahlen, wenn die Eltern trotz Diagnose nicht abgetrieben haben. Da steuern wir auf schwierige ethische Fragen zu.»
Festival als ein Beispiel, wie es immer sein sollte
Ziel des Tobias-Hauses ist es, ein regelmässig stattfindendes Musik-Festival zu etablieren, bei dem sich Menschen mit und ohne Behinderung nicht nur den Zuschauerbereich, sondern auch die Bühne teilen. Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen sollen «aus den schützenden, aber zugleich beschränkenden Mauern der Institutionen» geholt werden und die Möglichkeit haben, ihre Talente zu präsentieren.
Am Soundsyndrom!-Festival erfuhr das Publikum beispielsweise von «Tobis Welt» aus erster Hand und auf humorvolle Weise aus dem Alltag der Bewohner eines Behindertenheimes oder von der «HORA’BANDExterner Link» über die Rolle von Menschen mit Beeinträchtigung in einer immer stärker normfixierten Gesellschaft. Solche Begegnungen fördern Empathie und verhindern Diskriminierung.
«Das Festival ist ein Beispiel, wie es immer sein sollte», sagt Brill. «Ich hoffe, dass es selbstverständlich wird, überall im täglichen Leben geistig behinderten Menschen zu begegnen.»
Behindertenrechtskonvention und die Schweiz
Die UNO-Behindertenrechtskonvention bezweckt den Schutz von Freiheiten und Rechten von Menschen mit körperlichen oder geistigen Behinderungen.
Die Schweiz hat die Konvention 2014 ratifiziert. Das Fakultativprotokoll hat sie hingegen nicht unterzeichnet, daher besteht bei Konventionsverletzungen kein Beschwerdeweg. Die Schweiz muss aber regelmässig Berichte über die Umsetzung der Konvention einreichen.
Im ersten Bericht von 2016Externer Link schreibt die Schweiz, verschiedene Gesetzesrevisionen hätten wesentliche Verbesserungen für Menschen mit Behinderungen gebracht. Auch seien Zugänglichkeit zu Bauten oder zum öffentlichen Verkehr verbessert worden.
Der Bericht ist aus Sicht von insiemeExterner Link und anderen Behindertenorganisationen allerdings schönfärberisch. Der Bericht konzentriere sich zu stark auf die geltenden Gesetze und verschweige praktische Probleme bei deren Umsetzung. Auch seien die Konvention und andere Rechtsgrundlagen zu stark auf körperbehinderte Menschen ausgerichtet; die Bedürfnisse von Menschen mit geistigenExterner Link oder psychischenExterner Link Beeinträchtigungen würden zu wenig berücksichtigt.
Die Behindertenverbände haben einen Nationalen AktionsplanExterner Link lanciert, um die Umsetzung der Behindertenrechtskonvention in der Schweiz voranzutreiben.
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