Die Schweizer Justiz ist ungerecht gegenüber Kindern
Die Präventionsarbeit zu Missbrauch und Misshandlungen von Minderjährigen und zur Förderung des Kindswohls hat in der Schweiz zu Fortschritten geführt. Allerdings wird sie immer wieder von Hindernissen erschwert. Eines davon ist das Fehlen einer kinderfreundlichen Justiz. Der Internationale Tag der Kinderrechte ist Anlass dafür, sich dessen bewusst zu werden und zu ändern.
«Mit etwa 13 war ich ein rebellisches Kind. Ich schwänzte die Schule, haute mehrmals ab, trieb mich mit Jungs herum, die nicht den besten Ruf hatten, und gebärdete mich teils wie ein Krimineller. […] Zwei- oder dreimal wurde ich auf den Polizeiposten gebracht. Auch die Jugendschutz-Behörde wurde eingeschaltet.
Wenn ich diese Zeit Revue passieren lasse, muss ich sagen, dass ich das Glück hatte, an Polizisten zu geraten, die mich auf intelligente Art und Weise warnten, aber auch entschieden, es liege kein Grund für eine Anklage vor, auch wenn es durchaus einen gab. Sogar der Polizist, den ich als Trottel beschimpft hatte, managte die Situation mit grosser Selbstkontrolle und liess davon ab, mich schnurstracks ans Jugendgericht zu überwiesen.»
Wer hier ruhig und gelassen von seiner ungestümen Jugendzeit erzählt, ist Philip JafféExterner Link, Direktor des interdisziplinären Zentrums für Kinderrechte an der Universität Genf und verantwortlich für den Themenbereich Kinder und Jugend am Schweizerischen Kompetenzzentrum für Menschenrechte (SKMR).Externer Link
Jaffé, eine Kapazität in der klinischen Psychologie und der Rechtspsychologie, erzählte am internationalen Kongress zum Thema Prävention des Kindermissbrauchs und Förderung des Kindswohls von seiner bewegten Vergangenheit. Der Kongress fand Ende Oktober in Lugano statt. Organisiert wurde er von der Stiftung der italienischen Schweiz für die Unterstützung und den Schutz der Kinder (ASPI)Externer Link.
Dass er damals Glück gehabt hatte, erkannte er erst im Verlauf seiner Berufserfahrung. Er stellte fest, dass die Justiz für Kinder und Jugendliche in der Realität nicht für alle gleich war, wie sie das sein sollte: Sie variiert je nach Anwendung und Kompetenzen der Personen, die sie ausüben. Auch heute noch, lange nach den frühen 1970er-Jahren, als Jaffé ein Jugendlicher war.
UNO-Tag der Kinderrechte
Am 20. November wird weltweit der Tag der Rechte der Kinder und Jugendlichen begangen. Das Datum bezieht sich auf den 20. November 1989, als in New York die Kinderrechts-Konvention verabschiedet wurde. Die KonventionExterner Link wurde 1996 von der Schweiz ratifiziert und am 26. März 1997 in Kraft gesetzt.
Föderalistische Ungerechtigkeit
Auch wenn die UNO-Vollversammlung seither die Kinderrechts-Konvention verabschiedet und die Schweiz diese ratifiziert hat, und das Ministerkomitee des Europarats, dem auch die Schweiz angehört, die Richtlinien über eine kindergerechte Justiz angenommen hat, «bleiben in der Praxis grosse Unterschiede zwischen den Kantonen», betont der Experte am Rand des Kongresses.
«Auch in Bezug auf die Berufsausbildung gibt es erhebliche Unterschiede», präzisiert Philip Jaffé. Skandalös findet er, dass «in gewissen Kantonen auf diesem Gebiet Personen ohne spezielle Ausbildung tätig sind. Man kann nicht im Interesse des Kindes handeln, wenn einem die nötigen Kompetenzen fehlen».
Im Schweizer Justizsystem sind allgemein «viele Mitwirkende – Richter, Anwälte, Sozialarbeiter – nicht genügend ausgebildet, um mit Kindern zu arbeiten. Und falls sie es sind, fehlt ihnen die Zeit, sich hinzusetzen und mit dem Kind zu reden, damit es sich wohl fühlt», beklagt der Experte.
Das Recht auf Anhörung wird verletzt
Gemäss dem Universitätsprofessor «hat die Schweiz keine kindsgerechte Justiz», ihr Recht auf Anhörung werde weitherum missachtet. «Bei den Administrativ- und Zivilverfahren werden schätzungsweise lediglich 10% der Kinder in Situationen angehört, die sie direkt betreffen. Dabei ist es ein fundamentales Recht. Niemandem würde es je in den Sinn kommen, einen Erwachsenen bei einem Ereignis nicht anzuhören, das ihn betrifft.»
Eine Ungerechtigkeit, die der Professor bestens kennt, nicht nur wegen seiner beruflichen Erfahrungen, sondern auch weil er sie in seiner Jugendzeit selber erlebt hat. «Auch wenn alle nur mein Bestes wollten, nahm sich niemand Zeit, mir zuzuhören. Das Justizsystem sah keine Zeit vor, mich anzuhören. Ich konnte mich nicht erklären, damit man mir dabei geholfen hätte, meine höheren Interessen festzulegen.»
Prävention und Anreiz
Laut dem Experten «gibt es kein Recht ohne Gerechtigkeit, was bedeutet, dass es auch keine Rechte für Kinder ohne eine kindergerechte Justiz gibt». Dies wirke sich überdies auf die Prävention von Misshandlungen und zur Förderung des Kindswohls negativ aus. Da die Justiz Missbrauch und Misshandlungen verurteile, müsse sie darauf hinweisen, was nicht erlaubt sei. «Die Justiz hat eine extrem wichtige Rolle», sagt Philip Jaffé.
Der Experte betont auch, wie wichtig die Interaktion sei. «Für das Kindswohl und die Prävention von Misshandlungen müssen alle miteinbezogen werden: die Familie, die Lehrkräfte, Trainer von Sportclubs bis hin zu Sozialarbeitern und Justizbehörden. Das Kind hat in jeglicher Lebenslage das Recht, respektiert und gut behandelt zu werden», betont ASPI-Direktorin Myriam Caranzano-Maitre.
Wenn ein Kind schon leidet, dann «ist es hart, wenn auch die Justiz oder andere Institutionen eine weitere Traumatisierung hinzufügen. Deshalb ist es äusserst wichtig, dass die Justiz die Dinge nicht verschlimmert. Stattdessen sollte sie sich mit dem Kind auseinandersetzen, und zwar als Person und nicht als Objekt, ihm zuhören und es respektieren».
Die Kinderärztin, die auch Vorstandsmitglied bei der Internationalen Gesellschaft für Prävention und Intervention bei Kindsmisshandlung und Vernachlässigung (ISPCAN)Externer Link ist, präzisiert, dass «eine gute Behandlung fundamental ist: Sie ist das Mittel gegen Missbrauch und Gewalt. Und dies gilt für alle Formen von Misshandlungen».
In der UNO-Kinderrechts-KonventionExterner Link «ist alles festgehalten, was dem Kindswohl dient. Würde sie wirklich angewendet, gäbe es für uns nichts mehr zu tun», erklärt Myriam Caranzano-Maitre.
Das Problem mit den Zahlen
Für jene, die sich in der Schweiz mit Prävention zu Missbrauch und Misshandlung von Minderjährigen beschäftigen, ist das Fehlen von genauen Zahlen ein Problem. «Es liegen Zahlen von Kinderärzten, von Spitälern und der Polizei vor. Dies ist aber lediglich die Spitze des Eisbergs, sogar die Spitze der Spitze des Eisbergs, denn es handelt sich dabei nur um jene Fälle, die ans Licht kommen. Es gibt viele andere unbekannte Situationen. Alles ist sehr nebulös», beklagt Myriam Caranzano-Maitre. Die Direktorin von ASPI betont, wie wichtig es wäre, zuverlässige und vollständige Daten zu erhalten, um die Probleme zu identifizieren und ihnen vorzubeugen, aber auch, um die Auswirkungen der Präventionsstrategie zu überprüfen.
Diese Lücke sollte in den nächsten Jahren dank der nationalen Studie OptimusExterner Link Schweiz und weiteren schweizerischen und internationalen Initiativen sukzessive gefüllt werden können. «Wie wir aus diversen epidemiologischen Studien wissen, erleiden zwischen 10 und 20% der Kinder in der Schweiz in irgendeiner Form Misshandlungen», präzisiert die Ärztin.
(Übertragung aus dem Italienischen: Gaby Ochsenbein)
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