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“Kannst du krank nicht leben? Sprich darüber!”

Während die Eltern über HIV sprechen, spielen und singen die Kinder im Garten. swissinfo.ch

Die beste Art des Kampfs gegen Aids besteht darin, darüber zu sprechen. Zusammen mit anderen, und ohne Schamgefühle. Davon überzeugt ist die Schweizer NGO François-Xavier Bagnoud. Sie gründet Selbsthilfegruppen für HIV-Positive in Burma.

Auf dem Fussboden von Ma San Sans bescheidenem Haus ist kaum noch Platz zum Sitzen. Rund fünfzehn Personen, meist Frauen, sitzen im Kreis um einen Holzpfahl, der das Dach trägt. Schweigend warten sie auf das, was dieser besondere Anlass bringen sollte.

Für Ma San San, eine Frau von rund 40 Jahren, und ihre Eingeladenen ist der Sonntag der jeweils wichtigste Tag der Woche: Sie können sich über ihr gemeinsames Schicksal, Aids, austauschen.

“Mit diesen Zusammenkünften bezwecken wir, dass über die Gesundheitsprobleme gesprochen werden kann und dass mit der Krankheit leben gelernt wird”, sagt Kathy Shein gegenüber swissinfo.ch. Sie ist Myanmar-Verantwortliche der Genfer NGO François-Xavier Bagnoud (FXB): “In Burma spricht niemand über Sex. Man tut es, und fertig. Wer merkt, dass er HIV-Positiv  ist, versucht zu schweigen und still zu leiden. Deshalb haben wir diese Zusammenkünfte organisiert.”

Beinahe eine Katastrophe

In Burma leben ungefähr 216’000 HIV-Positive, laut den Schätzungen für Ende 2011 von UNAids, dem UNO-Hilfsprogramm HIV/Aids. Eine recht zurückhaltende Schätzung, verglichen mit dem Nachbarland Thailand, wo bei ungefähr gleich grosser Bevölkerung mit mehr als einer halben Million HIV-Positivev gerechnet wird.

Laut der Organisation “Ärzte ohne Grenzen” (“Médecins sans Frontières” MSF) zeigt sich die Situation in Burma besorgniserregend. Nur ein Drittel der Personen, die ärztliche Versorgung benötigen, hätten Zugang zu Medikamenten. Auch schlage die Tuberkulose im Land dreimal stärker zu als im internationalen Durchschnitt. Diese Krankheit ist die primäre Todesursache bei HIV-Positiven. Burma gehöre ausserdem zu jenen Ländern, in denen der Anteil der multiresistenten Version von Tuberkulose am höchsten sei.

MSF hat in einem diesen März erschienenen Bericht kritisiert, dass das Abblocken einer gesamten Finanzierungs-Runde des Global Fund “katastrophale Auswirkungen” nach sich ziehe. Dieser Fonds ist 2002 für die Bekämpfung von Aids, Tuberkulose und Malaria eingerichtet worden und gilt als eines der wichtigsten Instrumente, um in Entwicklungsländern den Zugang zur medizinischen Versorgung zu erleichtern.

Die 11. Finanzierungsrunde hätte 46’500 zusätzlichen Patienten in Burma eine antiretrovirale Therapie ermöglicht, bedauert MSF. Die Ärzteorganisation, wichtigster Anbieter medizinischer Aids-Leistungen in diesem asiatischen Land, wurde damit gezwungen, “die unmögliche Auswahl” zu treffen, nur jenen zu helfen, die bereits schwer krank seien.

Ein Transitional Funding Mechanism soll teilweise die ausgefallene 11. UNO-Finanzierungsrunde ersetzen. Kürzlich haben sich Geberländer dazu entschlossen, vermehrt an diesen Mechanismus beizusteuern. Dies habe es ermöglicht, die Katastrophe im letzten Moment abzuwenden, sagt François Verhoustraeten, MSF-Schweiz-Verantwortlicher, gegenüber swissinfo.ch.

Dennoch wirke sich die gegenwärtige Wirtschaftskrise auf die Beiträge der Geberländer aus. “Dazu kommt, dass eine allgemeine Ermüdung rund um das Thema HIV und Aids festzustellen ist.” Das sei sehr zu bedauern, besonders da nachgewiesen sei, dass die antiretroviralen Therapien nicht nur den Gesundheitszustand der Patienten verbessern, sondern auch die Übertragung des HIV-Virus.

AIDS? Schon davon gehört?

Seit 1992 in Burma aktiv, ist FXB die erste Instanz gewesen, die in dieser ehemaligen englischen Kolonie die Krankheit Aids angegangen  ist. “Als wir kamen, hatten die Generäle noch nichts von Aids gehört”, sagte FXB-Gründerin Albina du Boisrouvray gegenüber dem englischen The Observer.

Nach einem ersten Rehabilitations-Programm für einige junge Frauen, die gezwungen worden waren, an der Grenze zu Thailand in Bordellen zu arbeiten, breitete FXB ihre Tätigkeit auf alle HIV-positiven  Personen aus.

Heute sind es Tausende von Prostituierten, Homosexuellen, elternlosen Kinder und Erwachsenen, die von den den gegen Retroviren gerichtete Therapien und der Beratung profitieren, die FXB bietet.

Zu den wirkungsvollsten Projekten gehören die Selbsthilfegruppen wie jene von Ma San San. “Zuerst trafen wir uns in den Lokalitäten von FXB im Stadtzentrum. Es kamen aber immer mehr. Für viele war es jedoch nicht einfach, zu kommen, weil sie kein Geld für den Transport haben”, sagt Kathy Shein.

Nach einer Fortbildung durch FXB konnte Ma San San in der Peripherie von Yangon (Rangoon) ihr eigene Gruppe bilden. “Als wir 2009 begannen, waren wir zu zehnt”, sagt sie. “Jetzt sind wir über 50.” Im ganzen Land partizipieren über 5000 Personen an diesem Programm.

Zusammenkünfte sind “weniger nervös” geworden

Von dieser Ermüdung, was Aids betrifft, merkt man in Ma San Sans bescheidenem Haus nur wenig. Die Frauen ziehen es jedoch vor, über ihre Probleme unter sich zu sprechen, ohne Mitbeinbezug einer unbekannten Person, im vorliegenden Fall des Schreibenden.

Am Nachmittag steht das Thema auf dem Plan, was eine HIV-positive  Person tun muss und was nicht. Im Einzelnen geht es um Hygienefragen, medizinische Leistungen, richtige Ernährung und das Verhalten beim Geschlechtsverkehr. “Wer sein Einkommen in der Industrieproduktion verdient muss zum Beispiel wissen, dass er sich körperlich nicht überanstrengen sollte”, sagt Kathy Shein.

Für Leute, die den HI-Virus haben, gehören die Fragen rund um die Arbeit zu den zentralsten. Denn im Arbeitsbereich riskiert man wegen der Diskriminierung die schwersten Konsequenzen. “Entdeckt der Arbeitgeber die Krankheit, folgt die Kündigung. Aber auch dank unseren Sensibilisierungs-Kampagnen haben einige Führungsverantwortlichen ihr Verhalten verändert”, sagt die lokale FXB-Verantwortliche. “Kranke werden nicht mehr ausgesondert, sondern es wird ihnen eine Arbeit zugewiesen, die mit ihrem Gesundheitszustand besser vereinbar ist.”

Das Sprechen über die Krankheit sei auch für die Kinder der Erkrankten besser. “Die Eltern haben auf diese Weise mehr Glauben in die Zukunft und sind deshalb eher bereit, die Kinder in Schulen zu schicken.” Einige Kinder, wie die 14-jährige Tochter von Ma San San, haben in einem der FXB-Zentren eine berufliche Ausbildung machen können. “Ich bin frohdass sie ist nicht HIV-positiv ist”, sagt ihre Mutter.

Am Ende des Tages erhalten die Teilnehmenden noch Vitamine, Bananen, ein Getränk und  Präservative. Vor dem Abschied lässt sich Kahty Shein noch ein Geheimnis bezüglich der Selbsthilfegruppe entlocken: “Bis vor wenigen Jahren entwickelte sich um diese Zusammenkünfte noch eine gewisse Nervosität, denn die Junta der Generäle hatte jegliche Ansammlung von mehr als fünf Personen untersagt. Heute hingegen hat keiner mehr Angst vor Verhaftungen.”

Künftig werden Nichtregierungs-Organisationen wie FXB, die sich mit Aids befassen, auch auf den Support der bekannten Oppositions-Politikerin Aung San Suu Kyi zählen können. Vor wenigen Tagen hat sie sich der UNAids zur Verfügung gestellt. Ihr Ziel ist die Beseitigung von Stigmatisierung und Diskriminierung.

HIV-Positive weltweit

2001: 28,9

2006: 31,7

2011: 34,2  

Über 65% der HIV-Positiven lebt in Subsahara-Afrika

Neue HIV-Infektionen

 

2001: 3,2

2006: 2,9

2011: 2,5

Russland, Zentraleuropa und Zentralasien weisen die grössten Infektions-Wachstumsraten auf.  

 

HIV-Tote

 

2001: 1,9

2006: 2,3

2011: 1,7

In den letzten sechs Jahren verringerte sich die Anzahl der Opfer um einen Drittel.

Nutzer von Therapien in armen Ländern

 

2003: 0,4

2011: 8

In den letzten zwei Jahren nahm die Zahl der Personen, die Zugang zu antiretroviralen Therapien haben, um 60% zu.

 

Quelle: UNAids.

Das Aids-Programm der UNO, UNAids, hat sich 2010 für 2015  Ziele gesetzt.

Unter anderem:

– Angebot an antiretroviralen Therapien für 15 Mio. Patienten

– Die HIV-Übertragung um 50% reduzieren

– Dieselbe Reduktion auch bei Drogenabhängigen

– Die Elimination neuer HIV-Infektionen bei Kindern

– Reduktion der Tuberkulose-Todesfälle unter HIV-Positiven um 50%

– Das Aufbringen von jährlich 22 bis 24 Mrd. Dollar für die Kampf gegen die Krankheit in armen Ländern

– Elimination der Stigmatisierung und Diskriminierung von HIV-positiven Personen.  

(Übertragung aus dem Italienischen: Alexander Künzle)

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