Qualitätsverlust bei Lehrerausbildung befürchtet
Der akute Lehrermangel hat einige Kantone zu Notmassnahmen veranlasst. Jetzt befürchten die Lehrerverbände einen Qualitätsverlust in der Ausbildung. Das Problem stellt sich auch in Deutschland und Österreich.
«Die Situation ist in den drei Ländern sehr ähnlich», sagt Franziska Peterhans, Zentralsekretärin des Dachverbands Schweizer Lehrerinnen und Lehrer (LCH), nach einem Treffen der Lehrerverbände der Schweiz, Deutschlands und Österreichs in Zürich gegenüber swissinfo.ch. «Die Hauptursache für den Lehrermangel ist die grosse Pensionierungswelle, die auf uns zukommt. Doch es fehlt an Nachwuchs.»
Bereits vor zwei Jahren schätzten die drei Lehrerverbände, dass in den nächsten 15 Jahren im deutschsprachigen Raum 600’000 Lehrpersonen pensioniert werden, davon 31’000 in der Schweiz. Alle Abgänge zu ersetzen wird schwierig: «In allen drei Ländern sind halb so viele Lehrpersonen in der Ausbildung, wie es brauchen würde», sagt Peterhans.
Wegen dem Lehrermangel und den Notmassnahmen, welche die Arbeitgeber ergreifen, befürchten die Lehrerverbände einen Qualitätsverlust ihres Berufes. Mit der Zürcher Erklärung fordern die Lehrerverbände deshalb gemeinsam, dass die Qualität der Ausbildung gewährleistet werden müsse, und zwar trotz des Lehrermangels.
In der Schweiz werden die Massnahmen von den kantonalen Bildungsdirektionen oder Schulämtern ausgesprochen. Dazu gehört etwa, dass Lehrpersonen der Primarstufe auf der Sekundarstufe unterrichten dürfen, auch wenn sie dafür nicht genügend ausgebildet sind. Die Verbände befürchten, dass dies zur Regel werden könnte.
In manchen Kantonen ist der Lehrermangel allerdings bereits für das kommende Schuljahr dermassen akut, dass Sofortmassnahmen unumgänglich sind, wie das Beispiel des Kantons Aargau zeigt.
Inserate im deutschsprachigen Ausland
In knapp zwei Monaten, am 9. August 2010 fängt im Kanton Aargau das neue Schuljahr an. Zurzeit sind rund 300 Inserate geschaltet, die insgesamt 160 Vollzeitstellen umfassen. Letztes Jahr waren es rund 200 Inserate (100 Vollzeitstellen).
«Im Vergleich zum Vorjahr ist es schwieriger, die offenen Stellen zu besetzen», erklärt Irène Richner, Kommunikationsleiterin des Departements Bildung, Kultur und Sport, gegenüber swissinfo.ch.
Neben mittel- und langfristigen Massnahmen verfolgt der Kanton auch kurzfristige. Dazu zählt unter anderem, die offenen Stellen in Deutschland und Österreich auszuschreiben. «Die Lehrpersonen aus diesen zwei Ländern verfügen in der Regel über die erforderliche Ausbildung. Sie müssen deshalb keine Aus- oder Weiterbildung in der Schweiz besuchen», erklärt Richner. Seit der Inserateschaltung seien rund 90 Anfragen eingegangen, die meisten aus Deutschland.
Beschränktes Reservoir im Ausland
Wie Franziska Peterhans vom LCH sagt, habe man am Treffen auch über das Abwerben in den Nachbarländern gesprochen. «Ein gewisses Rekrutierungspotential ist da», meint Peterhans und ergänzt: «Interessant ist es sicher für Personen, die jung und ungebunden sind oder in grenznahen Gebieten wohnen.»
Das Reservoir an Lehrpersonen dürfte nicht allzu gross sein. «Deshalb sehen wir das Abwerben auch nicht als grosse Gefahr», sagt die Zentralsekretärin des LCH. «Die Lehrerverbände können jedoch die Hoffnungen, welche die Bildungsdirektionen in diese Massnahmen setzen, nicht ganz teilen», betont sie. «Es ist jedoch immer noch besser, als nicht ausgebildete Personen vor eine Klasse zu stellen.»
Lehrermangel in der Romandie geringer
Die Diskussion um die Qualität und das Niveau der Lehrerausbildung wird auch in der französischsprachigen Schweiz geführt, auch wenn dort der Lehrermangel nicht ein so akutes Problem ist wie in der Deutschschweiz.
«Wir haben noch keine Knappheit an Lehrern, aber sie wird kommen», sagt Georges Pasquier, Präsident des Lehrerverbandes der Romandie (SER). Wie in der Deutschschweiz, so werden auch in der Romandie grössere Pensionierungswellen erwartet. Weil in einigen Kantonen gleichzeitig die Anzahl der Schulkinder sinken wird, rechnet Pasquier aber nicht mit grossen Engpässen.
«Die wichtigste Gegenmassnahme ist eine gute Ausbildung auf hohem Niveau», betont Pasquier. «Bisher haben zum Beispiel Primarlehrer nur einen Bachelor-Abschluss. Der SER fordert aber für alle Lehrberufe einen Masterabschluss», sagt er.
Pasquier ist überzeugt davon, dass dadurch die Attraktivität des Lehrerberufes gesteigert wird: «Er erfährt eine Aufwertung und so wird auch der Nachwuchs sichergestellt.»
Wenige Engpässe im Tessin
«In der italienischsprachigen Schweiz ist der Lehrermangel kein grosses Thema», sagt Diego Erba, Leiter des Tessiner Schulamtes gegenüber swissinfo.ch. «Auf den Sekundarstufen fehlen lediglich einige Mathematik-, Französisch- und Geographielehrerinnen und -lehrer.»
Wegen solchen kleineren Engpässen mussten teilweise Personen angestellt werden, die noch in der Ausbildung sind. Laut Erba würden nur 15 Personen ohne Ausbildung unterrichten.
Die grösste Hürde bei einer Anstellung sei jedoch weniger die Ausbildung, sondern die Sprachkompetenz, wie Erba erklärt: «Unsere Lehrpersonen müssen auch deutsch und französisch auf einem guten Niveau sprechen können.»
Sandra Grizelj, swissinfo.ch
Am 31. Mai 2010 trafen sich in Zürich Vertreterinnen und Vertreter des Dachverbandes Schweizer Lehrerinnen und Lehrer, des Verbandes Bildung und Erziehung aus Deutschland sowie die Gewerkschaft Öffentlicher Dienst aus Österreich.
Im Mittelpunkt des Treffens stand der massive Lehrermangel. Mit der Erklärung von Zürich kritisieren die Lehrerverbände die kurzfristigen Massnahmen der Arbeitgeber, wie etwa das Einstellen von nicht adäquat ausgebildeten Lehrpersonen.
Die Verbände fordern stattdessen langfristige Massnahmen, wie die Steigerung der Ausbildungsqualität.
Man vermutet, dass ein Drittel aller Lehrerinnen und Lehrer in der Schweiz in den nächsten 5 bis 10 Jahren pensioniert wird.
In den Regionen mit einem starken Bevölkerungs-Wachstum – ohne Berücksichtigung der Zuwanderung – zeichnet sich ein Lehrermangel ab.
Laut dem im Februar publizierten Bildungsbericht Schweiz 2010 hat sich die Zahl jener Lehrkräfte, die über 50 sind, erhöht und nimmt weiter zu. Sie dürfte bald durchschnittlich 35% erreichen.
2007 lag dieser Anteil im Kanton Tessin mit über 40% am höchsten, gefolgt vom Mittelland mit rund 33% und der Genfersee-Region mit knapp über 30%.
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