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Smartphones – Tor für Behinderte zur Welt

Béatrice Renz ist begeistert über die neuen Möglichkeiten, die ihr James IV auf dem Smartphone bietet. swissinfo.ch

Menschen mit schweren körperlichen Behinderungen können bald mit einem einzigen Klick mit der Welt kommunizieren. Möglich macht dies ein Mobiltelefon der neuesten Generation, das Schweizer Ingenieure entwickelt haben.

Als vor einigen Jahren die ersten Smartphones auf den Markt kamen, revolutionierten die mobilen Fast-Alleskönner den Alltag der Menschen.

Die neuesten Nachrichten, der Fahrplan, der neueste Hit: Es gibt kaum eine digitale Anwendung, die sich die Besitzer nicht auf ihr hippes Teil herunterladen können. Die Spanne der so genannten Apps, wie die Anwendungen genannt werden, reicht dabei von sehr nützlich bis ziemlich überflüssig.

Für eine Gruppe ganz besonders stellt die digitale Revolution der Apps einen Gewinn dar: Für Menschen, deren Mobilität aufgrund körperlicher Behinderungen stark eingeschränkt ist.

In Zusammenarbeit mit der Stiftung für Elektronische Hilfsmittel (SEH) entwickelt nämlich das Neuenburger Unternehmen ER Systems eine Fernbedienung,  welche eine Kommunikation mit einem Minimum an Befehlen ermöglicht.

Der digitale Butler «James IV», wie die Entwicklung heisst, kann viel mehr als herkömmliche Fernbedienungen, wie sie Nichtbehinderte verwenden. Der «Butler» ermöglicht neben dem Einschalten des Fernsehgeräts auf Knopfdruck, dem Öffnen von Türen und Ein- und Ausschalten des Lichts auch das Telefonieren, das Verschicken von SMS und Mails sowie das Surfen im Internet.

«Wie ein kleines Kind»

Béatrice Renz, die infolge ihrer Krankheit Multiple Sklerose (MS) heute Tetraplegikerin ist, gehört zu jenen Personen, die James IV während der Entwicklung in der Praxis testen.

Die Frau bewegt ihren Rollstuhl mittels Navigationshebel, der vor ihrem Kopf positioniert ist und den sie mit ihrem Kinn erreicht. Mit dieser zentralen Steuerung kann Béatrice Renz gleichzeitig das am Rollstuhl befestigte Smartphone bedienen.

Auf dessen Schirm laufen die verschiedenen Befehle in einer Reihe durch, so dass Béatrice Renz einfach den richtigen Augenblick abwartet, bis sie per Klick mit dem Kinn den gewünschten Befehl auslösen kann.

«Es geht mir wie einem kleinen Kind, das ein neues Spielzeug entdeckt», sagt Béatrice Renz begeistert. «Selbständigkeit ist vor allem eine Sache des Kopfes. Aber alles, was mir eine zusätzliche Unabhängigkeit ermöglicht, ist ein wunderbares Geschenk.» Die Wahlfreiburgerin freut sich insbesondere darüber, dass sie dank der Hilfe von James IV ihren Freunden und Freundinnen SMS und Mails selber schreiben kann.

Android machts möglich

Schreiben ist eine der liebsten Tätigkeiten der gebürtigen Bündnerin. Im letzten Jahr hat sie «Der flitzende Rollstuhl» veröffentlicht, ein Buch mit einer Sammlung von Anekdoten aus ihrem Alltag. «Bis jetzt habe ich meine Gedanken meinen Assistenten diktiert. Mit James IV kann ich nun meine Texte selber schreiben und einen eigenen Stil entwickeln», freut sie sich.

Die Programme, die auf dem Smartphone vor den Augen von Béatrice Renz defilieren, basieren auf demselben System wie dasjenige der Pfeilnavigation auf der Tastatur eines jeden Computers. «Wir haben das Android-System von Google weiterentwickelt, das allen offen steht», erklärt Neil Marietta, Ingenieur bei ER Systems.

Hier liegt die Revolution von James IV, ermöglicht doch die Google- Software eine enorme Flexibilität. Sie lässt sich nicht nur präzise von Fall zu Fall anpassen, sondern macht jede App auch Menschen mit schwerer körperlicher Behinderung zugänglich.

Digitale Gleichstellung

«Wenn eine behinderte Person ein Zugticket online kaufen will, genügt es, die App der SBB herunter zu laden, denn diese passt sich dann automatisch unserem Betriebssystem an», sagt Marietta. «Behinderte haben so Zugang zur Welt der Nichtbehinderten.»

Das spezielle Programm der Spezialisten von ER Systems ist aber nicht der einzige Trumpf, der das Leben von Menschen mit eingeschränkter Mobilität erleichtert.

Als grosse Hilfe erweist sich auch die Technologie der Stimmerkennung. Weil auch diese stets ausgefeilter wird, könnten Befehle immer schneller ausgeführt werden, freut sich Neil Marietta für Béatrice Renz und viele andere Nutzerinnen und Nutzer.

Die Stiftung für Elektronische Hilfsmittel (SEH) existiert seit 1982. Sie setzt sich in folgenden drei Bereichen zugunsten Behinderter ein: Verbesserung der Kommunikation für Menschen, die nicht sprechen können, ergonomischer Zugang zu Computern sowie Vergrösserung der Autonomie im alltäglichen Umfeld.

Die Stiftung ist Partnerorganisation des Bundesamtes für Sozialversicherungen.

1986 entwickelte die SEH als Weltpremiere eine universelle Fernbedienung, mit der Behinderte Befehle per Infrarotstrahl erteilen konnten. 1995 kam die Weiterentwicklung James II auf den Markt.

Zusammen mit Entwicklungspartner ER Systems arbeitet die SEH an der sechsten Version von James. «Der Schritt ist so riesig, dass wir von Stufe II direkt auf Stufe IV springen», erklärt Projektionsleiter Eric Rusca.

Dank einer Anwendung von Android, dem Betriebssystem von Google, ermöglicht James IV die Kommunikation von Smartphones und Tablet-Computern aufgrund eines einzigen Bedienknopfes.

James IV befindet sich momentan noch in der Testphase, die Einführung ist auf kommenden Herbst geplant. «Wir haben keinerlei Möglichkeiten für Investitionen.

Für die Kommerzialisierung von James IV fehlen uns heute rund 400’000 Franken», klagt Daniel Baumann von der SEH.

(Übertragung aus dem Französischen: Renat Kuenzi)

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