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Ich wollte nicht arm sein und bin es dennoch geworden

Grégoire Barbey

Grégoire Barbey nimmt Bezug auf einen Artikel von swissinfo.ch über Armut in der Schweiz und berichtet über seine Erfahrungen und Gefühle. Unser Ansatz sei ungeschickt gewesen, schreibt er, weil sich Armut nicht "testen" lasse.

Mit Interesse habe ich den Artikel von swissinfo.ch mit dem Titel ” Ich wollte einen Monat arm sein in der Schweiz – es war Stress” gelesen. Die Absicht ist lobenswert, der gewählte Ansatz ungeschickt. Kann man sich Armut auferlegen, um einen Bericht darüber zu schreiben? Kann man – wie es die Autorin macht – ein einmonatiges “Experiment” durchführen, das sie nach zwei Wochen abbricht?  Ich glaube nicht.

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Grégoire Barbey ist Autodidakt und freiberuflicher Journalist. Er arbeitete vier Jahre lang für die Zeitung L’Agefi und war Kolumnist für La Télé. Sein Hauptaugenmerk richtet er auf gesellschaftspolitisch relevante Themen. Besonders engagiert ist er in Genf und in sozialen Netzwerken, vor allem als Chefredaktor von franchi.ch. DR

Armut ist selten eine Situation, für die man die Frist kennt; ganz im Gegenteil. Es ist ein langsamer Rückgang ans untere Ende der sozialen Skala, die unweigerlich zu immer grösseren Enttäuschungen und immer grösser werdender Frustration führt. Es ist eine alltägliche Qual.

Was die Autorin in ihrem Artikel leider nicht vermitteln kann, ist die ganze menschliche Dimension, alle Zustände von Angst, Scham, Schuld und Traurigkeit, die das Los der Menschen sind, deren einzige unmittelbare Perspektive die Sozialhilfe ist.

So wie es nicht genügt, Armut zu simulieren, um in der Lage zu sein, diese zu erklären, genügt es auch nicht, der Sozialhilfe anzurufen, um wirklich zu verstehen, was Begünstigte jeden Monat durchmachen.

Keine Ressourcen, kein Vermögen

Sozialhilfe beziehen, ist – entgegen landläufiger Meinung – selten ein Honiglecken. Um anspruchsberechtigt zu sein, müssen Sie zuvor alle anderen Existenzmittel ausgeschöpft haben. Es ist das letzte soziale Sicherheitsnetz unseres Landes. Eine Person in der Sozialhilfe hat keine Ressourcen, kein Vermögen. 

Der monatliche Beitrag der Sozialhilfe, um für den Lebensunterhalt aufzukommen, beträgt monatlich 977 Franken. Damit müssen alle Rechnungen beglichen werden für Lebensmittel, Bekleidung, Freizeit, Strom, Telefon, Internet, Radio- und Fernsehrechnungen, medizinische Ausgaben, die nicht von der Grundversicherung gedeckt sind, die mögliche jährliche Zahlung einer Mietkaution, usw.

Die Miet- und Krankenversicherungsprämien sind gemäss bestimmter Tarife gedeckt. Kosten, die darüber liegen, gehen zu Lasten des Begünstigten.

Mit einem Unterhaltsbetrag von 977 Franken pro Monat, der in der Regel in den meisten Kantonen bezahlt wird, leben die Betroffenen je nach Wohnort unterschiedlich. Die Lebenshaltungskosten können von Ort zu Ort variieren… Die Verallgemeinerung ist daher heikel. Man kann jedoch mit Sicherheit sagen, dass man mit dieser Summe in der Schweiz mehr schlecht als recht über die Runden kommt.

Um Sozialhilfe zu erhalten, ist es auch notwendig, jeden Monat verschiedene Dokumente, einschliesslich Kontoauszüge, einzureichen. Der kleinste zusätzliche Betrag, den man von irgendwoher erhält – zum Beispiel von einem Freund, der weit weg wohnt und einem 200 Franken zum Geburtstag schenkt – wird im Folgemonat von der Sozialhilfe abgezogen.

Man muss restlos alle Einnahmen begründen, bestimmte Dokumente aufbewahren, denn die Mitarbeitenden bei den Sozialdiensten haben manchmal ihre eigenen Interpretationen. Deshalb muss man auf alle Eventualitäten vorbereitet sein.

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Misserfolg ist tabu hierzulande

Jedes Mal, wenn die Sozialhilfe brieflich kommuniziert, oder einen Begünstigten zu irgendeiner Massnahme verpflichtet, wird an das Gesetz erinnert, das einem die eigene Situation vor Augen führt. Leider gibt es heute in unserem Land eine Schuldvermutung gegenüber Menschen in Not. Wegen einer Minderheit von Schummlern, die das System missbrauchen, wird eine Mehrheit als Profiteure behandelt, deren einziges Ziel es sei, die Gemeinschaft zu betrügen und auf dem Rücken anderer zu leben.

Verdeckt vom Postkartenklischee über die Schweiz und deren Reichtum und wirtschaftlichen Erfolg, leben zwei von zehn Personen hierzulande unter prekären Bedingungen. Für manche von ihnen ist die Beanspruchung von Sozialhilfe aus Scham unmöglich. Um den tadelnden Blick einer gnadenlosen Gesellschaft zu vermeiden, stürzen sich diese Menschen in noch grössere Unsicherheit, obwohl ihnen das Recht auf Sozialhilfe zustehen würde.


«Armut ist vor allem eine emotional bedrückende, anstrengende Situation, die erhebliche Opfer erfordert.»
Grégoire Barbey

Es ist ein Teufelskreis, denn die Schulden kumulieren sich.  Aus dieser Sackgasse herauszukommen, in einem Land, in dem Betreibungen selbst im Fall von beglichenen Rechnungen während fünf Jahren in einem Register festgehalten werden und wie eine Mauer der Schande wirken, ist ein harter Kampf. Scheitern ist hierzulande ein Tabu.

Die Not lässt sich nicht in einem Experiment erfahren

Armut ist vor allem eine emotional bedrückende, anstrengende Situation, die erhebliche Opfer erfordert. Das Leben am Existenzminimum bedeutet, einen Teil des sozialen Lebens zu vergessen, denn in diesem Leben, in dem alles Geld kostet, muss man oft seine Brieftasche herausnehmen, um seinen Freunden irgendwohin folgen zu können.

Oder man muss akzeptieren, eingeladen zu werden, was dieses unangenehme Gefühl nährt, ein Sozialhilfe-Empfänger zu sein, eine Belastung für die Gesellschaft.

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All diese Ängste können nicht in einem zweiwöchigen “Experiment” erlebt werden. Dies ist ein langfristiger Prozess. Man kann die Armut nicht wie ein Smartphone oder einen Staubsauger testen, um den Lesern und Leserinnen darüber zu berichten.

Die durch Armut verursachte Ausgrenzung und Einsamkeit führt häufig zu Depressionen, was es noch schwieriger macht, der Armut eines Tages zu entkommen. In der Schweiz ist Armut leider ein bisschen wie eine Krankheit, die an der Haut klebt und die Art und Weise verändert, wie die Menschen einen anschauen, und noch schlimmer, wie das System einen sieht.

Aber die Armut kann jede und jeden treffen, ob krank oder gesund, ob einheimisch oder fremd… Oft genügt ein Fehltritt, ein Ereignis, um ungeschützt in die Tiefe zu stürzen.

Der beste Weg, über Armut zu berichten, ist immer noch die Befragung von Menschen, die Tag für Tag seit Jahren mit ihr leben. Wer sonst könnte diese rohe Realität besser verständlich machen? Aber leider haben diese Menschen fast nie die Möglichkeit, sich auszudrücken.

Gerichtsverfahren, an denen Sozialhilfe-Empfänger beteiligt sind, die das System missbraucht haben, werden jedoch systematisch veröffentlicht.

Hier stimmt was nicht.

Arm in der Schweiz – unsere Berichterstattung

Unser Artikel über das Budget-Experiment von Redaktorin Sibilla Bondolfi hat bei Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, sehr grosses Echo gefunden. Der Erfahrungsbericht wurde ausserordentlich oft gelesen, in den sozialen Medien häufig geteilt und dort wie auch bei uns intensiv diskutiert.

Obwohl der Blog ein Unterelement eines anderen Textes war, galt die heftigste Diskussion dem Selbstversuch. Darf man als privilegierte Person ein solches Experiment überhaupt angehen? Ist das nicht eine Ignoranz der Not, in der viele Menschen stecken, die weniger privilegiert sind?

Die Frage wurde gestellt, manchmal sehr kritisch, nicht immer so differenziert.

swissinfo.ch publiziert in zehn Sprachen, bisher erschien der Text auf Spanisch, Portugiesisch und drei Schweizer Landessprachen. Oft hören wir von unseren Lesern und Leserinnen aus aller Welt, dass Armut in einem Land kaum denkbar sei, in welchem der Medianlohn für eine Vollzeitstelle 6500 Franken beträgt. Sie können nicht glauben, dass jemand, der als Einzelperson von 2259 Franken oder als vierköpfige Familie von 3990 Franken pro Monat lebt, in der Schweiz als arm gilt.

Und dennoch zeigt der hier stehende Text von Grégoire Barbey sehr eindrücklich, dass auch eines der reichsten Länder der Erde Armut kennt.  Und unser Text mit den Berechnungen und Budgets hat gezeigt, dass es in der Schweiz mit 2259 Franken monatlich bei allen Pflichtabgaben und hohen Fixkosten sehr knapp wird, auch wenn der Betrag in anderen Ländern nach viel Geld klingt – das war unser Ansatz.

Armut ist nicht nur eine Frage des verfügbaren Geldbetrages.

Sie ist auch ein Gefühl – das des Ausgeschlossenseins, wie Grégoire Barbey schreibt. Hier ist arm, wer im Vergleich zu Armen in anderen Ländern noch viel Geld hat. Und besonders arm, weil Armut in der Schweiz für kaum jemanden richtig vorstellbar ist.

Balz Rigendinger, Leiter Redaktion Schweiz

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(Übertragung aus dem Französischen: Peter Siegenthaler)

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