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Wie Schweizer in Brasilien Pandemie und «Fake News» meistern

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Patienten in einem Feldlazarett, das in einer Turnhalle in Santo André, am Stadtrand von São Paulo aufgebaut wurde, Donnerstag, 4. März 2021. Copyright 2021 The Associated Press. All Rights Reserved.

Brasilien ist von der Coronavirus-Pandemie besonders stark betroffen. Schweizer, die dort leben, setzen weiterhin auf Abstandnehmen und andere Schutzmassnahmen. Und sie sind sich bewusst, dass ihr Alltag allgemein einfacher ist als jener der durchschnittlichen Bevölkerung.

«Ich bin jetzt seit 50 Wochen zu Hause», sagt zum Beispiel Susi Altwegg, 75, eine Schweizer Auswanderin in São Paulo. Die Zahl hat sie genau im Kopf, denn so lange hat sie nun ihre Putzfrau bezahlt, auch wenn diese, um das Risiko einer Ansteckung zu vermeiden, nicht zur Arbeit kommt.

Altwegg, die mit ihrem Sohn und ihrem Enkel zusammen lebt, erledigt die Hausarbeit nun selbst und will sich nicht beklagen: «Das Wichtigste ist, kein Teil der Statistik zu werden.»

Als Schulsekretärin arbeitet Altwegg heute von zu Hause aus. Und vermisst den persönlichen Kontakt zu ihren Kolleginnen und Kollegen. «Aber wir haben keine Wahl», sagt sie leicht resigniert und fügt hinzu, «wir müssen das Beste tun und die Sicherheitsmassnahmen einhalten.» Nicht zuletzt, weil die Alternative der Tod wäre. «Und das will ich nicht», fügt sie hinzu.

Um sich körperlich und geistig fit zu halten, vertieft Altwegg sich in Filme, Musik, Bücher sowie in körperliche Aktivitäten wie Qigong. Zu ihrer Routine gehört auch die Information. Sie hat die Zeitung «O Estado de São Paulo» abonniert, liest Nachrichten aber oft auch auf Websites wie UOL.

«Ich bevorzuge noch immer die auf Papier gedruckte Zeitung, verfolge jedoch auch verschiedene Nachrichtenseiten im Internet», sagt sie. Darunter die Website swissinfo.ch sowie die Online-Versionen der Schweizer Zeitungen «Berner Zeitung» und «Neue Zürcher Zeitung».

Altwegg bereitet sich auf ein weiteres Jahr mit Abstandnehmen vor, auch wenn sie in den kommenden Wochen geimpft werden könnte. «Ich denke, es wird noch eine Weile dauern, bis der Impfschutz vollständig ist.»

In der Zwischenzeit kümmert sich ihr Sohn weiterhin um die Einkäufe, sei es persönlich oder online. Und wenn sie selber zur Bank oder in die Apotheke muss, benutzt sie immer eine Maske und Alkoholgel. Sie mag zwar müde und besorgt sein, bleibt aber standhaft: «Wir dürfen uns nicht unterkriegen lassen.»

Beschämende Situation

Für den Musiker Hanspeter Reimann, 68, ist die Musik im Umgang mit den Folgen der Pandemie eine wichtige Verbündete. Er lebt seit zwölf Jahren in Indaiatuba, eine Stadt in etwa 80 Kilometer Entfernung von São Paulo.

Reimann arbeitet weiterhin an musikalischen Projekten und betrachtet sich als privilegiert, weil er im Gegensatz zu einem Grossteil der brasilianischen Bevölkerung die Mittel hat, sich vor den Folgen der Pandemie zu schützen.

«Mein Umfeld hier ist nicht dasselbe wie das allgemeine Umfeld in Brasilien», sagt er aus der Stadt Colônia Helvetia, in der eine der grössten Gemeinschaften von Schweizer Nachkommen in Brasilien lebt.

Er sei jedoch erschrocken über die Art und Weise, wie das Land mit der Krankheit umgegangen sei, sagt Reimann. Erschrocken auch über den Mangel an nationaler Koordination und die Menge an «Fake News», die in Umlauf gebracht worden sei.

«Ich finde die Situation in Brasilien beschämend; mir fehlen die Worte. Niemand zwingt mich, hier zu leben, also muss ich es akzeptieren. Aber es ist sehr beängstigend und ich verstehe nicht, wie es Menschen gibt, die all dies einfach akzeptieren», sagt er.

«Ich lebe tatsächlich wie ein Privilegierter, weil ich hier nur auf der guten Seite Brasiliens leben kann», fügt Reimann hinzu. Eine Seite, die aus seiner Sicht noch besser sein könnte, wäre da nicht diese Ungleichheit.

In den Augen des Schweizer Musikers sind die politischen Probleme, die in Brasilien im Zusammenhang mit Lockdown-Massnahmen für so viel Chaos sorgten, auch eine Folge der Bildung der Menschen. «Politiker sind ein Spiegel der Gesellschaft, man wird daher auch keine besseren Politiker haben, solange die Bildung allgemein nicht besser wird», sagt er.

Wenig Vernunft

Auch der Geschäftsmann und Sportler Stefan Santille, 46, Inhaber der Marke Ursofrango (eine Anspielung auf das Birkhuhn, das den Winter in den Bergen verbringt), kritisiert das Verhalten der Politikerinnen und Politiker in Brasilien.

«Politiker zu sein bedeutet hier vor allem die Gelegenheit, sich Vorteile zu verschaffen. Im Sinne von: Ich bestimme mein Gehalt, meine Ferien, ich ändere das Gesetz, wenn etwas schief läuft…», erläutert er.

Santille erinnert alles etwas an eine Seifenoper, mit viel Polarisierung und Diskussionen. «Und sie beenden das Gespräch immer mit: ‹Es ist kompliziert!› Und das war es dann.» Dies ist seiner Ansicht nach vor allem das Ergebnis der Ernüchterung der Menschen angesichts von Dingen, die sich seit langem wiederholen.

Es fehle in Brasilien auch an Vernunft, sagt Santille. «Als ich mich mit meinen Schweizer Freunden unterhielt und wir darüber sprachen, was vor sich ging, waren sie besser über die Pandemie informiert als ich hier in Brasilien; sie hatten zumindest eine klarere Vorstellung davon, was passieren würde», sagt er in Bezug auf Massnahmen der Regierung.

«Wenn der Gesundheitsminister in der Schweiz sagt, dass Dinge auf eine bestimmte Art und Weise getan werden müssen, werden die Leute es tun, weil ein Vertrauensverhältnis zur Politik besteht», sagt der Unternehmer.

Würde und Mut

Auch Hanspeter Häfeli, 66, Inhaber der Firma Berna, glaubt, dass die Bevölkerung in der Schweiz besser informiert ist. «Die Herausforderung hier ist gross, aber man muss den Menschen in Brasilien gratulieren. Im Grossen und Ganzen begegnen sie der Pandemie mit Würde und Mut.»

Für ihn ist das brasilianische Volk sehr besonnen und friedlich, denn sonst hätte es angesichts dieser schweren Gesundheitskrise bereits soziale Unruhen gegeben, sagt er.

Häfeli war sich gewohnt, in die Schweiz zu reisen, wo eines seiner Kinder lebt. Aber 2020 hatte er beschlossen, darauf zu verzichten, um seine Verwandten nicht zu gefährden. «Zum Glück haben wir moderne Kommunikationsmittel; ich würde mich nicht wohl fühlen, jemanden zu besuchen», sagt er.

Als regelmässiger Leser der schweizerischen und brasilianischen Presse hält er die Art und Weise der Kommunikation in den beiden Ländern für sehr unterschiedlich. «Hier ist der politische Druck stärker. Die Schweiz war besser darauf vorbereitet, für wirtschaftliche und gesundheitliche Sicherheit zu sorgen», sagt er.

Aber dennoch sei nicht alles ganz so einfach, meint Häfeli. Um seinen Standpunkt zu verdeutlichen, führt er den Fall seiner eigenen, 92 Jahre alten Mutter an. Sie lebt in Brasilien und wurde zu Hause geimpft, von einer Fachkraft des öffentlichen Gesundheitswesens. Während seine etwa gleichaltrige Tante in der Schweiz in dem Altersheim, in dem sie lebt, infiziert wurde… «Die Medien könnten mehr über solche Fälle in Brasilien berichten», regt er an.

(Übertragung aus dem Französischen: Rita Emch)

(Übertragung aus dem Französischen: Rita Emch)

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