Wie die Schweiz ihre Dörfer vor Schlammlawinen schützt
Die jüngsten Schlammlawinen in der Schweiz haben Todesopfer gefordert und grosse Schäden angerichtet. Warnsysteme und Schutzzäune können das Schlimmste verhindern. Es gibt aber auch Stimmen, die drastische Lösungen vorschlagen, um der zunehmenden Gefahr von Naturkatastrophen zu begegnen.
Beschädigte und zerstörte Häuser und Strassen, von der Aussenwelt abgeschnittene Alpgemeinden und mindestens zwölf Tote oder Vermisste: Das ist die Bilanz der Unwetter, welche die Schweizer Südkantone Graubünden, Tessin und Wallis zwischen Mitte Juni und Anfang Juli heimgesucht haben.
Die starken Regenfälle liessen nicht nur die Flüsse anschwellen und führten zu Überschwemmungen. Sie setzten auch das an Berghängen abgelagerte Felsmaterial in Bewegung und lösten Schlamm- und Steinlawinen aus. Solche Murgänge sind sehr zerstörerisch und schwer vorhersehbar.
«Murgänge sind sehr gefährlich, weil sie grosse Sedimentblöcke mit relativ hoher Geschwindigkeit transportieren können», sagt Brian McArdell, Spezialist für Gebirgshydrologie und Massenbewegungen an der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL), gegenüber SWI swissinfo.ch.
Hier sehen Sie einige der Schäden, die Murgänge in der Schweiz diesen Sommer verursacht haben:
Murgänge entstehen in der Regel in Bachbetten oder Rinnsalen mit einem Gefälle von mehr als 25%. Es ist jedoch praktisch unmöglich, im Voraus zu wissen, wo sie entstehen werden.
«Wir wissen in der Regel nicht, wie viel Geröll in einem Bach vorhanden ist und wie viel Material sich bei starken Regenfällen lösen und bewegen könnte», sagt McArdell.
Weltweit sind rund 70 Länder von Murgängen betroffenExterner Link. In der Schweiz können sie gemäss der Karte des Bundesamts für UmweltExterner Link in weiten Teilen des Landes auftreten.
In den Alpen können sie bis zu einer halben Million Kubikmeter MaterialExterner Link ins Tal transportieren. Jährlich verursachen sie Schäden von durchschnittlich 100 Millionen Franken.
+ Die klimatischen Herausforderungen für ein Schweizer Alpendorf
Die Klimaerwärmung wird laut WSL zu einer Zunahme von extremen Niederschlagereignissen führenExterner Link und damit das Risiko von Murgängen erhöhen. «Sie zu verhindern, ist aber extrem schwierig», sagt McArdell.
Massnahmen zum Schutz der Bevölkerung und der Infrastruktur sind daher unverzichtbar, besonders in bereits betroffenen oder als gefährdet geltenden Gebieten. Es gibt im Wesentlichen zwei Lösungen: Warnsysteme und Schutzbauten.
Murgänge mit künstlicher Intelligenz vorhersehen
Warnsysteme können die Möglichkeit eines Murgangs vorhersagenExterner Link oder Bewegungen von Geschiebe erkennen, wenn diese bereits im Gang sind.
Im ersten Fall basieren die Vorhersagen hauptsächlich auf der Regenmenge. Das habe den Vorteil, dass Einsatzkräfte wie Feuerwehr und Polizei alarmiert werden können, sagt Alexandre Badoux, ebenfalls Murgangexperte an der WSL. «Für die Bevölkerung ist das aber nicht immer die beste Lösung.»
«Das Problem sind die Fehlalarme: Wir wissen, dass die Bevölkerung damit nur schwer umgehen kann.»
Alexandre Badoux, Murgangexperte WSL
Murgänge bildende Bäche und Rinnsale reagieren nicht alle gleich auf Starkniederschläge. Deshalb ist es schwierig, einen Schwellenwert für die Niederschlagmenge festzulegen, der für eine ganze Region gilt. «Das Problem sind die Fehlalarme: Wir wissen, dass die Bevölkerung damit nur schwer umgehen kann», sagt Badoux.
Das andere System erkennt einen Murgang mit Hilfe von Instrumenten, die im Bachbett oder am Ufer installiert werden. Metallische Reissleinen brechen beim Durchgang von Material, während komplexere Geräte wie Sensoren die sich im Boden ausbreitenden Wellen auffangen und an eine Zentrale melden können.
Doch auch hier gibt es einen Nachteil: Beginnt der Murgang abwärtszufliessen, bleibt meist wenig Zeit, um Alarm zu schlagen. Um wertvolle Minuten zu gewinnen, haben Forschende der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH) und der WSL ein Alarmsystem entwickelt, das auf künstlicher Intelligenz basiert.
Sensoren, die routinemässig bei Erdbeben eingesetzt werden, können Erschütterungen erkennen, die durch Murgänge in mehreren Kilometern Entfernung verursacht werden.
Der Algorithmus, der mit den Daten früherer Murgänge trainiert wurde, ist in der Lage, Materialbewegungen von Erschütterungen zu unterscheiden, die etwa Kuhherden oder der Bahnverkehr verursachen.
Das System wurde 2020 im Illgraben im Kanton Wallis erfolgreich getestetExterner Link. Mit einem erfreulichen Resultat: Die Vorwarnzeit konnte dabei um 20 Minuten verlängert werden.
Stahlnetze schützen Häuser und Infrastruktur
«Warnsysteme können Menschen schützen und Leben retten», sagt Badoux. «Schäden an der Infrastruktur können sie aber nicht verhindern.»
Betonmauern und Dämme können Häuser und Infrastruktur vor Murgängen schützen. Doch sie sind teuer und brauchen viel Platz.
+ Klimabedrohungen: Leben am Fuss eines instabilen Bergs
Eine kostengünstigere Alternative sind Stahlnetzbarrieren, die schon seit langem gegen Erdrutsche und Lawinen eingesetzt werden. Sie können rasch in einem Bach oder einer Schlucht als Sofortmassnahme oder zum Schutz einer einzelnen Strasse oder eines Gebäudes installiert werden. Seit 2007 wurden in der Schweiz über 110 solcher Barrieren errichtetExterner Link.
Die Netzbarriere hält das feste Material des Murgangs zurück, während die Maschen Wasser und Schlamm durchlassen. «Wir verwenden hochfesten Stahldraht, der auch für Skiliftseile verwendet wird», sagt Isacco Toffoletto, Ingenieur bei Geobrugg, einem führenden Unternehmen für Schutzsysteme gegen Naturgefahren.
Doch wie die Warnsysteme haben auch die Stahlnetze ihre Grenzen. Sie seien nur dort sinnvoll, wo sich selten Murgänge bilden, sagt Badoux. «Sonst müssten sie ständig gereinigt werden, was enorme Kosten verursacht.»
Ein weiterer Schutz gegen Murgänge sind Rückhaltebecken. Sie können grosse Materialmengen aufnehmen, benötigen aber eine grosse Fläche.
Verzicht auf die am meisten gefährdeten Alpentäler?
Mit der Klimaerwärmung steigt das Risiko von Naturkatastrophen. Und der Schutz aller alpinen Siedlungen und Infrastrukturen wird immer aufwändiger und teurer. Bund, Kantone und Gemeinden investieren bis 2022 rund 600 Millionen FrankenExterner Link in den Schutz vor Naturgefahren.
Für Reinhard Steurer, Professor für Klimapolitik an der Universität für Bodenkultur in Wien, sind drastische Lösungen unumgänglich.
Schäden durch Hochwasser und Murgänge wie in diesem Sommer in der Schweiz seien zwar noch zu reparieren, «aber wenn das zweimal oder dreimal passiert, und dann noch in einem ohnehin schon dünn besiedelten Gebiet, dann kann man einen Wiederaufbau sozioökonomisch nicht mehr rechtfertigen», sagte er der Neuen Zürcher ZeitungExterner Link.
Bis zum Ende des Jahrhunderts rechnet er damit, dass einige exponierte Alpentäler teilweise aufgegeben werden müssen.
Für Carmelia Maissen ist dies eine «verkürzte und zynische Sicht auf das Thema». Sie ist Präsidentin der Regierungskonferenz der Gebirgskantone.
Auch wenn es in Einzelfällen zu Umsiedlungen kommen könne, dürften nicht ganze Täler aufgegeben werden, sagte sie der gleichen Zeitung. Man müsse nun analysieren, was in den Unwettergebieten passiert sei und unter Berücksichtigung der Klimaszenarien die Schwachstellen identifizieren.
Auch für den Murgangexperten Badoux geht es in einem nächsten Schritt darum, die Gründe für solche zerstörerischen Murgänge zu verstehen. Dies werde dazu dienen, die Naturgefahrenkarten zu überarbeiten und allenfalls die Gefahrenzonen neu zu definieren.
Das ist der einzige positive Aspekt der Tragödien, die in den letzten Wochen über Schweizer Dörfer hereingebrochen sind: Sie verhindern vielleicht in Zukunft weitere Todesopfer und Schäden.
Editiert von Sabrina Weiss, Übertragung aus dem Italienischen: Christian Raaflaub
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