
Locarno 1925: Was Europa vom vergessenen Schweizer Friedensvertrag lernen kann

Die Verträge von Locarno leiteten nach dem Ersten Weltkrieg eine kurze Phase der Entspannung ein. Was kann das heutige Europa aus dieser Episode lernen – in einer Zeit, in der der Kontinent erneut mit Krieg und einem isolationistischen Amerika konfrontiert ist?
In der populären Geschichtsschreibung ist es der Vertrag von Versailles im Jahr 1919, der den Ersten Weltkrieg beendete. Das Abkommen zwang Deutschland, die Verantwortung für den bis dahin blutigsten Konflikt zu übernehmen.
Viele Historiker:innen argumentieren jedoch, dass die entscheidende EinigungExterner Link erst sechs Jahre später erzielt wurde: Mit den Verträgen von Locarno.
In dem Abkommen, das Diplomaten 1925 über zehn Tagen hinweg ausgehandelt haben, verzichtetenExterner Link die Hauptunterzeichner Deutschland, Frankreich, Grossbritannien, Italien und Belgien auf Gewaltanwendung in allen Fällen ausser zur Selbstverteidigung.
Der Pakt wurde als diplomatischer Meilenstein gefeiert, der Jahre der Konfrontation zwischen den europäischen Grossmächten beendete.
«Es war das grundlegendste Abkommen für die Stabilisierung Europas nach dem Ersten Weltkrieg», sagte Sacha Zala, Direktor des Forschungszentrums Diplomatische Dokumente der Schweiz (Dodis).

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Die Verträge bestätigtenExterner Link die Grenzen Deutschlands zu Frankreich und Belgien und bekräftigte den entmilitarisierten Status des Rheinlandes, der in Versailles festgelegt wurde. Die Verträge von Locarno waren so bedeutend, dass die Hauptverhandler – die Aussenminister FrankreichsExterner Link, Deutschlands und GrossbritanniensExterner Link – dafür den Friedensnobelpreis erhielten.
Doch die Versöhnung war nur von kurzer Dauer. 1936 sandte Adolf Hitler, zu diesem Zeitpunkt Reichskanzler Deutschlands, Truppen ins RheinlandExterner Link und brach damit das Abkommen. Nur drei Jahre später begann der Zweite Weltkrieg.
Heute, zum hundertsten Jahrestag der Verträge und angesichts der russischen Invasion in die Ukraine, sind Expert:innen der Meinung, dass Locarno Lehren dafür bietet, wie man wieder Frieden auf den Kontinent bringen kann.
Sicherung Europas angesichts der Abkehr der USA
Zum Beispiel, dass Europa sich in Sicherheitsfragen nicht auf die Vereinigten Staaten verlassen kann: Nachdem die USA im Ersten Weltkrieg an der Seite Grossbritanniens und Frankreichs gekämpft hatten, weigerten sie sich, den Vertrag von Versailles zu unterzeichnen oder dem Völkerbund beizutreten. Dies, obwohl Präsident Woodrow Wilson einer der Hauptarchitekten der Vorläuferorganisation der Vereinten Nationen gewesen war.
Während die USA damals eine isolationistische Politik verfolgten und sich von Locarno fernhielten, verhandelten die europäischen Staaten untereinander. Im Rahmen der Verträge erklärte sich Deutschland bereit, alle territorialen Streitigkeiten mit Frankreich, Belgien, der Tschechoslowakei und Polen durch eine unabhängige SchlichtungExterner Link unter Vermittlung einer neutralen Drittpartei beizulegen. Locarno ebnete den Weg für den Beitritt Deutschlands zum Völkerbund im folgenden Jahr.Externer Link
«Die Grossmächte sprachen über Frieden für die Völker Europas», sagt Peter Jackson, Geschichtsprofessor an der Universität Glasgow und Experte für die Zwischenkriegszeit. «Es gab viele Verweise auf Europa als eine kollektive Einheit.»
Zwei Jahre vor den Verträgen von Locarno wurde in Lausanne die Auflösung des Osmanischen Reiches besiegelt:

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Als der Weltfrieden in Lausanne ausgehandelt wurde
Der Nachhall dessen ist bis heute zu spüren. Abermals kehrt sich die USA, von Europa ab, dieses Mal unter Präsident Donald Trump.
Der Präsident hat eine transatlantische Kluft geschaffen: Er führt Handelszölle ein, macht seinen Verbündeten Vorwürfe, zu wenig für Verteidigung auszugeben, und droht, die auf dem Kontinent stationierten US-Truppen abzuziehen.
Dies verunsichert die Staaten innerhalb der Nato: Würde die USA ihrer Verpflichtung noch nachkommen, einem Mitglied der Verteidigungsallianz im Falle eines Angriffs zu Hilfe zu kommen?
Mit Blick auf Locarno sagt Zala: «Die Lehre [für] Europa ist, seine Sicherheit selbst in die Hand zu nehmen.»
Das geschieht mittlerweile. Die EU-Mitgliedstaaten erhöhenExterner Link ihre Verteidigungsausgaben stetig, wobei sich viele auf dem NATO-Gipfel im Juni dazu verpflichtet habenExterner Link, bis 2035 5% ihres Bruttoinlandprodukts für die Verteidigung aufzuwenden – gegenüber dem derzeitigen Ziel von 2%.
Es ist auch die Rede davon, eine von den USA unabhängige nukleare AbschreckungExterner Link zu schaffen und die Verteidigungsindustrie der europäischen Länder zu stärken, um ihre AbhängigkeitExterner Link von amerikanischer Militärausrüstung und -technologie, darunter Kampfflugzeuge, Raketen und Artillerie, zu verringern.

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Ein multilateraler Ansatz
Aufschlussreich ist auch die Formel, die damals in Locarno den Frieden gesichert hat. Im Jahr 1925 haben die Europäer ihre Differenzen gemeinsam ausgeräumt, anstatt auf bilaterale Lösungen zurückzugreifen.
«Es war ein Versuch, die Machtpolitik als zentrale Logik der internationalen Diplomatie zu beenden und durch etwas zu ersetzen, das auf Zusammenarbeit fusst», sagt Jackson.

Im Jahr 2025 stellt die USA nicht nur die kollektive Sicherheit in Frage, sondern ist auch «zutiefst misstrauisch gegenüber multilateralen Institutionen», so der Professor aus Glasgow. Stattdessen setze Trump auf bilaterale Abkommen, die zu «Machtkonflikten» führten.
Das Dritte Reich in Deutschland habe das multilaterale System zunichte gemacht, indem es einzelne Abkommen unterzeichnete, die es nie beabsichtigte einzuhalten. Nach dem allseitigen ProtektionismusExterner Link infolge des Wall-Street-Crashs von 1929 und der wirtschaftlichen Rezession in den USA und weiten Teilen Europas trugen diese Ereignisse letztlich zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs im Jahr 1939 bei.
«Wir erleben erneut die gleiche Art von Abschottung und den Aufbau von Zollschranken – all die Dinge, die die globale Wirtschaftskrise in den 1930er-Jahren verschärft haben», sagte Jackson.
Ein unteilbares europäisches Sicherheitssystem
Doch Locarno bietet auch Lehren darüber, was man vermeiden sollte. Einer der grössten MängelExterner Link des Abkommens war sein Schweigen zu den östlichen Grenzen Deutschlands zu Polen und der Tschechoslowakei. Dadurch wurde Osteuropa faktisch aus dem regionalen Sicherheitsarrangement ausgeschlossen.
Die schwelenden Territorialstreitigkeiten mit diesen neuen Nationen nutzen deutsche Politiker aus: 1938 forderte HitlerExterner Link von der Tschechoslowakei die Übergabe des überwiegend deutschsprachigen Sudetenlandes und rückte den Kontinent damit näher an einen Konflikt heran.
Fast ein Jahrhundert später brauchte es Russlands Grossangriff auf die Ukraine im Jahr 2022 – acht Jahre nach der russischen Annexion der Halbinsel Krim – um Europa, wenn auch verspätet, aufzuwecken.
«Viel zu lange haben wir in Deutschland die Warnungen unserer baltischen Nachbarn vor Russlands imperialistischer Politik nicht hören wollen», sagte Bundeskanzler Friedrich Merz im JuniExterner Link. «Wir haben diesen Irrtum erkannt.»
«Wie es scheint, haben die europäischen Politiker verstanden, dass Sicherheit nicht teilbar ist», sagt Jackson. Und jene der Ukraine, so der Professor, sei ein Element der gesamten europäischen Sicherheit.
Trumps wiederholte VerzögerungenExterner Link bei der US-MilitärhilfeExterner Link für Kiew haben dazu geführt, dass die europäischen Hauptstädte ihre Zusagen zur Stärkung der Verteidigung der Ukraine verdoppelt habenExterner Link.
Sie blicken nach vorne: So schlagen Frankreich und Grossbritannien eine «Koalition der Willigen» vorExterner Link, um den osteuropäischen Staat nach einem Waffenstillstand zu unterstützen, vermeiden jedoch eine konkrete TruppenverpflichtungExterner Link.
Die Schweiz und der «Geist von Locarno»
Als Versuch, die politische Stabilität nach dem Krieg wiederherzustellen und die Wirtschaft wiederaufzubauen, waren die Verträge von Locarno eine positive Entwicklung für den Gastgeberstaat Schweiz, sagt Dodis-Direktor Zala.
Die Verträge versprachen die Wiedereingliederung Deutschlands, einem der wichtigsten Handelspartner, in Europa. «Frieden in Europa und stabile Nachbarländer sind das Beste für die Entwicklung der eigenen Wirtschaft», so der Historiker.
Als neutrales Land nahm die Schweiz nicht an den Verhandlungen von Locarno teil. Ihrer Rolle als Gastgeberin kommt sie jedoch weiterhin nach.
Im vergangenen Jahr war die Schweiz, die der Ukraine bisher 5,16 Milliarden Franken an HilfeExterner Link gewährt hat, Gastgeberin einer Konferenz über Frieden in Osteuropa. Obwohl die Schweiz kein Nato-Mitglied ist, ist sie für ihre Sicherheit auf das Bündnis angewiesen und nimmt an gemeinsamen Übungen teil.

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Das Konzept der Schiedsgerichtsbarkeit, das im Mittelpunkt der Verträge von Locarno steht, ist nach wie vor ein Schlüsselelement der Rolle der Schweiz auf der Weltbühne, da die Schweiz häufig als Vermittlerin bei Konflikten zwischen Staaten fungiert.
Angesichts der zunehmenden Rivalität zwischen den Grossmächten und der globalen wirtschaftlichen Unsicherheit ist die von der Schweiz hochgeschätzte regelbasierte Ordnung jedoch gefährdet, so Jackson.
Obwohl die Bemühungen in der Stadt Locarno vor 100 Jahren in den folgenden Jahrzehnten nicht von Erfolg gekrönt waren, ist der Professor überzeugt, dass der Geist jenes Abkommen heute der beste Weg zum Frieden ist.
«[Locarno] sah das Recht als Quelle der Sicherheit», sagt Jackson. «Es war einer dieser hoffnungsvollen Momente in der internationalen Politik – ein neuer Weg, um Differenzen friedlich beizulegen.»
Editiert von Tony Barrett/vm/ac, Übertragung aus dem Englischen: Meret Michel
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