Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

Ein Schweizer Katholik gibt im protestantischen Leipzig den Ton an

Andrea Reize bei einer Probe des Thomanerchors.
Andrea Reize bei einer Probe des Thomanerchors. Tom Theile

Kann ein Schweizer, dazu ein Katholik, Bachs Erbe antreten? Die Aufregung rund um die  Berufung des Solothurners Andreas Reize zum Thomaskantor in Leipzig war gross. Nach zwei Monaten im Amt scheint klar: Der Neue ist vielleicht genau deshalb der Richtige für diese grosse Aufgabe.

“Silentium“. Der Kantor bittet um Ruhe, und sein Wort wirkt. Es ist 15 Uhr, im grossen hellen Proberaum haben sich die Knaben des Thomanerchors zur täglichen Probe versammelt. Draussen vor der Tür stapeln sich eilig abgeworfene Schultaschen und Jacken. Manche hasten in letzter Sekunde auf ihre Plätze. Andreas Reize hebt die Hand und gibt den Einsatz. Heute steht die Kantate  “Wachet! betet! betet! wachet!“ auf dem Programm. Sie wird am Wochenende in der Thomaskirche aufgeführt, jede Woche übt der Chor wie zu Bachs Zeiten eine neue Kantate ein.

Dass der Schweizer Reize seit September einen der bekanntesten Knabenchöre der Welt leitet, war für viele in der Fachwelt eine kleine Sensation. Für ihn selbst ist es die Erfüllung eines Traums. Er hatte sich beworben, weil es für den nächsten Karriereschritt in seiner Heimat keine Chance gab. “So eine Stelle gibt es in der Schweiz einfach nicht“, erklärt der Kantor in seinem Leipziger Büro. Manche halten sie für die wichtigste in der protestantischen Kirchenmusik.

Reize ist der erste Katholik in dieser Position, der erste Schweizer sowieso. Vor ihm gab es nur deutsche Protestanten, der bekannteste unter ihnen war Johann Sebastian Bach. Er leitete den bereits 1212 gegründeten Chor als Thomaskantor von 1722 bis zu seinem Tod 1750. Reize ist seit dem 11. September 2021 Bachs 18. Nachfolger. Vorher hatte sich der 46-jährige unter anderem als Leiter der Singknaben der St. Ursenkathedrale Solothurn und mit seinen Opern auf dem barocken Schloss Waldegg einen Namen gemacht.

“Ich kann mir kein schöneres Amt vorstellen”

Hervorragende Chöre gibt es auch in der Schweiz. Die Knaben und ihre Stimmen unterscheiden sich in Solothurn und Leipzig nicht, sagte Reize. Ihn reizen die hochprofessionellen Strukturen. “Hier herrscht ein anderes Tempo.“ In Solothurn probte er zweimal in der Woche, in Leipzig nun jeden Tag. Die Thomaner leben zusammen, üben täglich mehrere Stunden, erhalten individuelle Stimmschulungen und lernen Instrumente. Sie treten jede Woche auf.

Dirigent und Chor
Roman Friedrich

Reize verbringt den Alltag mit ihnen, isst mit ihnen und hat ihren Speiseplan im Blick, er hat Assistenten und eine eingespielte Verwaltung mit einem üppigen Budget im Rücken. Die Gemeinschaft lebt für die Chormusik. Seine Aufgabe ist es, das Optimum aus ihr herausholen. “Ich kann mir kein schöneres Amt vorstellen.“

Der Kantor ist zugleich nahbar und eine Respektsperson für die Jungen. Während der Probe trägt er schwarze Turnschuhe, Jeans und T-Shirt. Seine rechte Hand kämpft mit dem Notenständer, der immer wieder in sich zusammensinkt, die linke gibt derweil den Takt an. “Das ist unglaublich tolle Musik“, motiviert er die Knaben und strahlt. Den Jüngeren in den unteren Reihen auf dem halbrunden Podest fällt das Stillsitzen nach einer Weile schwer. Da wird gezappelt, auch mal getuschelt, eine Flasche fällt um, ein Stift auf den Boden. Den Chorleiter bringt das nicht aus der Ruhe. “Lasst uns mal aufstehen“, ruft Reize. Mit der Bewegung kommt neue Konzentration.

Mehr

Mehr

Newsletter

Melden Sie sich für unsere Newsletter an und Sie erhalten die Top-Geschichten von swissinfo.ch direkt in Ihre Mailbox.

Mehr Newsletter

Reize ist passionierter Sportler und Triathlet, die Laufschuhe liegen noch vor den Notenblättern im Koffer, hat er der NZZ verraten. Diese Lust an der Bewegung baut er in die Chorarbeit ein, lässt die Knaben vor dem Singen erst einmal ihre Körper in Schwung bringen und zwischendurch durch den Saal laufen.

“Das sind ganz normale Jungs“, sagt er. Und die sitzen nach einem Vormittag in der Schule nun einmal nicht 90 Minuten ruhig wie Statuen. Strenge Disziplin ist nicht sein Ansatz. Wenn zuweilen ein mahnendes “Pssst“ zu hören ist, dann kommt es von den älteren Jahrgängen in den hinteren Reihen. Beim Thomanerchor erzieht man sich in der Gruppe. Auch das ist ein Teil des Konzepts. Die derzeit 106 Knaben zwischen sieben und 20 Jahren wohnen in altersgemischten Wohngemeinschaften, sogenannten Stuben, im Alumnat, das sie flapsig “Kasten“ nennen. Die Wege sind kurz: Auf der anderen Seite der Strasse gehen die Jungen in eine städtische Schule,  Probe- und Speisesaal sind in einem modernen Anbau des Internats untergebracht.

Am Proben
Stadt Leipzig / Jens Schlueter

Auch wenn die Thomaner in der Thomaskirche ihre musikalische Heimat haben, so ist der Chor doch eine städtische Einrichtung. Das Kulturamt der Stadt Leipzig leitet und finanziert das Internat und die Chorarbeit. Andreas Reize ist wie alle hier Angestellter der Stadt Leipzig und nicht der Gemeinde, er untersteht folglich in seiner Arbeit städtischer und nicht kirchlicher Aufsicht. Dennoch hat die erhöhte Wachsamkeit für Missbrauch im kirchlichen Umfeld auch innerhalb des Chors und Internats bei den Thomanern die Sensibilität für das Thema erhöht.

Bereits vor zwei Jahren hat Geschäftsführer Emanuel Scobel einen Kinderschutzbeauftragten ins Team geholt. Als externer Begleiter berät dieser den Chor, ist Ansprechpartner für die Kinder und führt auch Fortbildungsveranstaltungen mit den Erzieher:innen im Haus durch.  “Die Balance zwischen Nähe und Distanz ist ein wichtiges Thema. Bei einem Chor, der auch zusammen wohnt und das Leben teilt, umso mehr“, sagt Scobel. Das bezieht sich ausdrücklich auch auf das Verhalten der Sänger untereinander. “Achtsamkeit im Umgang miteinander ist ein hohes Gut, an dem wir täglich arbeiten.”

“Es ist wichtig sich persönlich zu verbinden”

In diesem Gefüge ist der Kantor mehr als ein Chorleiter, er ist eine Art väterliche Führungsperson. So wie sich dessen Rolle über die Generationen verändert hat, geht auch der 46-Jährige anders an sie heran als seine älteren Vorgänger. Mit ihm kommt ein frischer Wind ins Internat und den Umgang mit den Knaben. “Es ist absolut wichtig sich persönlich zu verbinden.“

Sport spielt dabei eine wichtige Rolle. Am Tag zuvor hat er sich einen Finger beim Fussballspiel mit ihnen leicht verstaucht und zeigt ihn fast stolz vor. Mit einschüchternder Autorität erzielt man keine Höchstleistungen, davon ist Reize überzeugt. “Ein Karajan”, sagt er und meint den für seinen autoritären Stil bekannten österreichischen Dirigenten Herbert von Karajan, “würde heute nicht mehr akzeptiert.“

Dirigent in action
Stadt Leipzig / Jens Schlueter

Bei den Heranwachsenden kommt das gut an. Das Verhältnis zum Kantor spiele sich nie nur auf musikalischer Ebene ab, betont der 17-Jährige Nathanael Vorwergk nach der Probe. Der Chor ist Familienersatz. Nathanael ist einer von drei Präfekten und damit so etwas wie die rechte Hand des Kantors im Chor. Seine Meinung hat Gewicht.

Vielleicht hat Andreas Reize ihn auch deshalb im Sommer nach seiner im Chor umstrittenen Berufung in die Schweiz eingeladen, um an einem mehrwöchigen Opernprojekt teilzunehmen. Nathanael hat Reize dort in dessen gewohntem Umfeld um einiges besser kennen- und immer mehr schätzen gelernt, sagt er. Was hat ihm gefallen? “Sein Umgang mit dem Chor, seine offene Art. Vielleicht liegt das daran, dass er Schweizer ist.“

“Wir haben diskutiert, ob ein katholischer Schweizer passen kann”

Eben das hätte in der Auswahl durchaus zum Hindernis werden können. “Wir haben schon diskutiert, ob ein katholischer Schweizer zum Thomaschor passen kann“, räumt Emanuel Scobel, Geschäftsführer der Thomaner im Gespräch, ein. “Aber dann haben wir uns gefragt: Was spricht eigentlich dagegen?“ Die Antwort: Eigentlich nichts.

Reize habe einfach in der einzigartigen Mischung seiner Kompetenzen überzeugt: Er kenne sich mit Fragen der Liturgie und des Kirchenjahres bestens aus, besitzt breite Erfahrung als Knabenchorleiter und auch in der Leitung von Orchestern. Und er zeige ein unglaubliches pädagogisches Geschick. Insbesondere die Kleinen hätten an seinen Lippen gehangen, sagt der Bachexperte Christfried Brödel, der die Findungskommission mit einem Gremium begleitete.

Junge Chor-Mitglieder
Stadt Leipzig / Jens Schlueter

Doch nicht alle waren glücklich über seine Wahl. Einige ältere Thomaner im Chor wandten sich im März mit vehementer Kritik an die Öffentlichkeit, sprachen Reize gar die Eignung ab. Doch die Berufungskommission fasste ein eindeutiges Votum für den Solothurner. Heute ist der Konflikt nach Bekunden aller Seiten beigelegt, auch weil Reize offensiv auf den Chor und seine Kritiker zugegangen ist. Mittlerweile, bestätigen alle Seiten, sei das Verhältnis hervorragend und von Vertrauen geprägt.

“Nach zehn Minuten war klar, dass er der Richtige ist”

“Im Bewerbungsgespräch war für mich nach zehn Minuten klar, dass er genau der Richtige ist“, sagt die Pfarrerin der St. Thomas Kirche Britta Taddiken. Sie ist an diesem Morgen für eine Besprechung im Alumnat. Ebenso wie ihr Kollege Martin Hundertmark hat sich die Pfarrerin für Reizes Berufung eingesetzt und ihn gegen Kritik verteidigt. Die beiden schätzen nicht nur Reizes musikalisches, sondern auch sein liturgisches Wissen. Da das Kirchen-Duo eng mit dem Schweizer in der Gestaltung des Kirchenjahres zusammenarbeitet, hat ihre Stimme Gewicht. Sie konnten die Zweifel vieler ausräumen, ob ein Katholik in diese ur-protestantische Position passe.

Mit Reize kehrt zudem ein wenig Internationalität in einen Chor ein, der derzeit vorwiegend Sänger und Kantore aus der bestens aufgestellten Leipziger Musiklandschaft rekrutiert. Den Thomanern könne eine überregionale Öffnung sicher nicht schaden, meint auch Geschäftsführer Emanuel Scobel. Noch gebe es keine Probleme, die über 100 Internats- und Chorplätze zu füllen. Doch aus einer Fülle qualifizierter Bewerber könne man ebenfalls nicht schöpfen. Da geht es den Thomaner wie den meisten Knabenchören. Andreas Reize hat den Anfang gemacht und einen seiner Solothurner Knaben mit nach Leipzig gebracht. Der ist nach einer Aufnahmeprüfung nun Teil der Chorfamilie und neben einem belgischen Jungen der einzige Ausländer im Chor.

Chor vor Orgel
Stadt Leipzig / Jens Schlueter

“Kinder wollen gefordert werden“, ist er überzeugt. Da gebe es durchaus Parallelen zum Hochleistungssport. Und sie geniessen mit Stolz die Früchte ihrer Arbeit, wie der 17-jährige Nathanael nach der Probe auf die Frage nach den schönsten Momenten im Chorleben bestätigt: Zu spüren, dass der Chor perfekt singe und in der wunderbaren Akustik einer Kathedrale das Publikum berührt, antwortet er mit einem Strahlen: “Das ist der Hammer. Ich bekomme dann schon auch Gänsehaut.“ 

Andreas Reize wurde 1975 in Solothurn geboren. Er studierte Kirchenmusik, Orgel, Klavier, Cembalo, Chor und Orchesterleitung an den Musikhochschulen in Bern, Zürich, Luzern, Basel und Graz. 2001 gründete Reize das „cantus firmus vokalensemble und consort“ auf historischen Instrumenten. Er ist auch Initiant und musikalischer Leiter der “Opern auf dem barocken Schloss Waldegg“. Von 2007 bis 2020 leitete Reize die Singknaben der St. Ursenkathedrale Solothurn, seit 2011 auch den Gabrielichor Bern und den Zürcher Bach Chor. Seine musikalischen Verbindungen in die Schweiz hat er nicht gekappt, er will weiter zweijährlich im Sommer die von ihm initiierte Oper Schloss Waldegg leiten und sein Cantus Firmus Ensemble weiterführen.

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft