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Schweizer Firma fischt in einem Meer von Zwitschern

Wer zwitschert worüber: Minsh ermöglicht Twitterern eine visuelle Darstellung in Echtzeit. swissinfo.ch

Seit fast einer Dekade ist er nicht mehr im Amt, doch Al Gore bleibt ein grosser Fisch, ein Fisch mit Erfahrung in virtuellen, sozialen Netwerken. Dank einer Firma mit Sitz in Lausanne bleibt der ehemalige US-Vizepräsident und Nobelpreisträger im Rampenlicht.

Das farbenfrohe Wesen lebt in Minsh, einer Onlinewelt, die von Computer-Wissenschaftern an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne (EPFL) entwickelt wurde. Sie hoffen, dass Minsh zu einer dreidimensionalen Echtzeit-Darstellung eines kollektiven Bewusstseins im Internet heranwachsen wird.

«Minsh ist eine virtuelle Unterwasserwelt, in der jeder Fisch für einen Twitter-Nutzer steht», erklärt Minsh-Mitgründerin Barbara Yersin und meint damit die phänomenal populäre Mikro-Blog-Plattform. «Das hier zum Beispiel ist der Fisch von Al Gore, der auf Twitter – und nun auch auf Minsh zu finden ist. Allerdings weiss er das nicht.»

Denkschulen, Denkschwärme

Die Idee hinter dem Ganzen: Das Sozialverhalten der Fische stellt dar, worüber die Leute gerade online schreiben. In der Unterwasserwelt von Minsh tummeln sich Leute, die über ein bestimmtes Thema schreiben, im gleichen Schwarm.

Wenn eine Person ihren Twitter-Status verändert, schwimmt der Fisch weg, um sich anderen mit ähnlichen Gedanken anzuschliessen. «Und das passiert in Echtzeit. Die Bewegungen basieren also auf dem, was gerade passiert», erklärt Yersin gegenüber swissinfo.

Für alle, denen Twitter kein Begriff ist, hier das Wesentliche: Twitter ist eine Plattform, auf der man Kurzmeldungen (höchstens 140 Anschläge) eintippt, die gleich auf dem Internet erscheinen. Die Einträge heissen «Tweets» (in etwa ein Zwitschern). Tweets können auch per Handy als SMS verschickt werden.

Der Dienst basiert auf der Voraussetzung, dass Leute mit ihren Freunden Beziehungen aufbauen – oder mit ähnlich gesinnten Fremden, die sie mit einer Suchfunktion auftreiben können. Twitter-Nutzer erhalten immer gleich die neusten Einträge anderer in ihrem Sub-Netzwerk.

Twitter soll heute etwa fünf Millionen Nutzer haben. Es handelt sich um eine eher neue Plattform und viele, die älter sind als 40, dürften sich ob des Phänomens den Kopf kratzen. Doch Twitter hat sich mittlerweile zu einem Massentrend entwickelt.

Politiker in Nordamerika und Grossbritannien nutzen Twitter, um zu zeigen, dass sie im Trend liegen. Israels Verteidigungsminister gab über Twitter eine Pressekonferenz, und Medienschaffende brauchen den Dienst als Zusatz zur traditionellen Berichterstattung.

Im Februar wurde Twitter auch genutzt, um einen vermissten britischen Snowboarder in Verbier (Schweiz) zu finden, der allerdings nur noch tot geborgen werden konnte.

Fische statt Menschen

Sie hätten bewusst auf eine menschliche Darstellung verzichtet und bei Minsh auf etwas gesetzt, was sie als «sehr angenehme, ruhige Umwelt» bezeichnet, sagt Yersin.

«Alle andern brauchen virtuelle Menschendarstellungen», so Yersin. «Wir hatten die letzten Jahre auch mit menschlichen Formen gearbeitet. Und dabei gemerkt, dass jeder ein Experte ist, wenn es um Menschen geht, nicht?»

«Wenn man eine Animation hat, die nicht wirklich gut ist, verliert man schnell das Gefühl der Immersion. Mit Fischen ist es viel einfacher.»

Um ihre Unterwasserwelt zu lancieren, setzten die Gründer von Minsh auf Twitterer, die sich für ein Programm interessieren dürften, das ihr Netzwerk visualisiert. Später möchten sie den Dienst auf andere Netwerke ausweiten. «Wenn jemand ein Konto bei Twitter hat und ich eines bei Facebook, könnten wir uns bei Minsh treffen», erklärt Yersin.

Der Dienst wird im April für 10’000 ausgewählte Nutzer lanciert. Yersin sagt, das Unternehmen habe eine klare Idee für die Zukunft, setze aber zunächst auf einen bescheidenen Anfang.

«Wir lancieren das Programm sehr früh. Das heisst, viele Funktionen, die wir anpeilen, sind noch nicht entwickelt. Aber wir wollten, dass es so rasch als möglich online losgeht, um zu sehen, wie die Nutzer reagieren, was sie wollen.»

Geldfragen

Betreiber von Online-Sozialnetzwerken sind sich nicht wirklich klar darüber, wie die Aktivitäten der Millionen Nutzer auch als zuverlässige Einnahmequelle genutzt werden können. Der Wert von Facebook wurde 2008 zwischen 3,75 und 5 Mrd. Dollar veranlagt, die Einnahmen lagen bei schätzungsweise 300 Mio. Dollar.

«Ich glaube nicht, dass soziale Netwerke in der selben Art und Weise zu Geld gemacht werden können wie Suchmaschinen», sagte Facebook-Gründer Mark Zuckerberg. «In den nächsten Jahren werden wir aber herausfinden müssen, welches der beste Weg ist. Heute ist das nicht unser primäres Anliegen.»

Facebook mit Sitz in Palo Alto (Kalifornien) generiert Einnahmen durch den Verkauf von Werbung. Aber ähnlich wie beim Dot-Com-Business in den späten 1990er-Jahren überschätzen Unternehmer wahrscheinlich oft, wieviel Cash ihnen ihre Online-Vermögenswerte einbringen können.

Twitter, gegründet 2006, verkauft bisher keine Werbung. Und wenn die Betreiber einen rentablen Businessplan haben, sind sie Meister darin, ihn geheim zu halten.

Bis Anfang 2010 plant Minsh, «vergnügliche und funktionale» virtuelle Artikel wie verbesserte Fisch-Versionen zu verkaufen. Yersin wälzt auch Gedanken, Partnerschaften mit Umweltorganisationen einzugehen, um Nutzern die Möglichkeit zu geben, bedrohte Fischarten zu kaufen.

Doch vorerst wird der in der Schweiz angesiedelte Dienst gratis sein. «Unser Geschäftsmodell ist anders als das von Twitter», sagt Yersin.

swissinfo, Justin Häne in Lausanne
(Übertragung aus dem Englischen: Rita Emch)

Minsh läuft mit der Technologie von Adobe Flash. Die Fische werden aufgrund der Themen ihrer Tweets gruppiert, nicht aufgrund von persönlichen Beziehungen.

Nutzer können diese Funktion auch aufheben und ihren Fisch einem bestimmten Thema zuordnen.

Die erste Version von Minsh nutzt die Hash- und Tag-Funktionen von Twitter und wird automatisch etwa einmal pro Minute aufdatiert.

Spätere Versionen werden mit Hilfe von Software Worte wie «the» und «have» herausfiltern.

Minsh wurde im Sommer 2007 von Barbara Yersin und Jonathan Maim gegründet, zwei Doktoranden im Labor für virtuelle Realitäten an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Lausanne (EPFL).

Ihr Spezialgebiet ist die Simulation von Menschen-Massen. Doch sie waren darauf erpicht, unabhängig von ihren Studienkursen ein Start-up-Unternehmen zu gründen.

Die Firma ist unabhängig von der EPFL, deren Studierende einen Teil der Rechte an jedem Projekt, das in Verbindung steht mit Studienkursen, an die Schule abtreten müssen.

Bei Minsh arbeiten heute fünf Leute. Das Unternehmen hat von der Schweizer Förderagentur für Innovation KTI und der EPFL finanzielle Zuschüsse erhalten, um Saläre zahlen zu können.

Minsh läuft auf dem Webdienst von Amazon und kann so Server zu- oder abschalten, je nachdem, wieviel Bandbreite es braucht.

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