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Wilhelm Tell auf tamilisch

Der exotische tamilische Tell mit Bogen nach dem Apfelschuss. swissinfo.ch

Ein tamilisch-schweizerisches Theaterstück über Fremdenliebe und Fremdenangst versetzt Wilhelm Tell in die Gegenwart.

Hier lebt der Nationalheld aus dem 13. Jahrhundert als Rentner, mit der Vergangenheit hadernd und doch als Nationalheld mit internationaler Ausstrahlung.

Auch ein kraftstrotzender Held wie Wilhelm Tell wird einmal alt und gebrechlich. Und dann muss auch der Haudegen gepflegt werden. In der Gegenwart wäre es durchaus möglich, dass er von einer Ausländerin, zum Beispiel einer Tamilin, betreut würde.

Genau diesen Zeitsprung vollführt die tamilisch-schweizerische Co-Produktion von AztT Zentrum für tamilisches Theater, dem BOA Kulturzentrum Luzern und M.U.T.H. Theater Ensemble Basel. Mit dem Stück «Happy Birthday TELL» oder «pirathanall valthu TOELL» tourt das Ensemble momentan durch die Deutschschweiz.

Interessante Dramaturgie

Ein im tamilischen Theater nicht unüblicher dramaturgischer Effekt versetzt den greisen Wilhelm Tell in die Gegenwart. Der 90-Jährige Nationalheld kann den tödlichen Schuss auf den Landvogt Gessler nicht vergessen.

Seine Erinnerungen quälen ihn, er macht sich Vorwürfe. Dies kann sein Sohn Walter, dem er einst einen Apfel vom Kopf schoss, nicht verstehen.

Walter ist Gemeindepräsident und gehört einer konservativen, rechts stehenden Partei an, die sich dafür einsetzt, dass die Ausländer «raus» sollen. Zudem befindet er sich mitten im Wahlkampf.

Und so passt es Walter gar nicht, dass die Pflegerin seines Vaters eine Tamilin ist. Der Alte kapselt sich von der Welt ab. Seine Pflegerin ist seine einzige Verbindung zur Aussenwelt.

Tells tamilisches Sprachrohr

Shanti, Tells Pflegerin, wird denn auch zu seinem Sprachrohr. So erreichen die Worte des Schweizer Freiheitshelden das Publikum durch den Mund seiner Pflegerin. Dies webt ein eigenartiges interkulturelles Band in die Aufführung.

Walter möchte die tamilische Pflegerin am liebsten loswerden und durch eine Schweizerin ersetzen. Doch das kommt für Tell-Senior nicht in Frage.

Fremdenfreund- und feindliches

Weiter hat sich Tells Grossnichte Maria in den geschäftstüchtigen und erfinderischen tamilischen Asylbewerber Rajah verliebt. Dieser besitzt, obwohl schon seit fünfzehn Jahren in der Schweiz, immer noch keine definitive Aufenthaltsbewilligung.

Rajah möchte mit Maria in Tells Dorf einen tamilischen Laden eröffnen. So ist niemand erstaunt, dass Walter Rajah loswerden möchte. Walter sieht nämlich seine Wiederwahl in Frage gestellt.

Willi, Tells jüngerer Sohn, ist Mönch geworden. Er unterstützt Maria und Rajah. Ausserdem organisiert er jedes Jahr Tells Geburtstagsfest. Und zu Tell 90stem lässt er die Apfelschuss-Szene als tamilisches Musiktheater, als «Kuttu» aufführen.

Exotischer Apfelschuss

Und dieses «Kuttu»-Schauspiel ist einmalig. Die Apfelschuss-Szene wird von tamilischen Tänzern in bunten Kostümen, farbenprächtig und exotisch geschminkt, getanzt. Gesungen wird in tamilischer Sprache. Ab und zu fällen als deutsche Worte «Tell» oder «Gessler».

Faszinierenderweise gelingt es den Tänzern, dem Publikum die Apfelschussszene glasklar und sehr eingängig zu schildern. Wer die Tellsgeschichte nur in Grundzügen kennt, kann dem Schauspiel gut folgen.

Musik ist ein wichtiger Bestandteil. Mahedran Thayanthan gelingt eine für unmöglich gehaltene Symbiose zwischen tamilischer und Schweizer Volksmusik.

Echt sehenswert auch, wenn Tells Pflegerin Shanti, sie ist ausgebildete Tempeltänzerin, mit fliessenden, flinken, geschmeidigen Bewegungen zu Schweizer Volksmusik tanzt! Schnell kommen einem da die Original-Tanzschritte aus der Innerschweiz plump und schwerfällig vor.

Tell, das internationale Freiheitsidol

«In Sri Lanka habe ich in meiner Jugend tatsächlich mal den Walterli in einer Tell-Aufführung gespielt», sagt Anton Ponrajah, Koautor des Stückes und Darsteller von Rajah.

In seiner Jugend war ihm allerdings noch nicht klar, dass diese Geschichte aus der Schweiz stammt.

Auch als er 1985 in die Schweiz flüchtete, wusste er nicht, dass er Tells Land um Asyl nachsuchen würde. Ponrajah sieht im Unabhängigkeitskampf der Tamilen in Sri Lanka Parallelen zur Befreiung der Urschweiz von den Habsburgern.

«Wilhelm Tell wollte bei der grossen Politik nicht mitmachen, er wollte einfach ein normales Leben führen, als normaler Mensch», erklärt Ponrajah weiter gegenüber swissinfo.

«Für mich ist das wichtig. Bei einer grossen Unterdrückung kann auch ein normaler Mensch provoziert werden bis er in den Kampf zieht. Das ist die Botschaft. Schiller wollte das zeigen», ist der tamilische Schauspieler überzeugt.

«Und bei uns Tamilen ist es dasselbe», fährt er fort. Deshalb sei das Schillersche Werk ein grosses Stück, meint er und schliesst: «Wilhelm Tell hat eigentlich nur eine kleine Rolle, aber er ist der Held!»

swissinfo, Etienne Strebel, Bern

«piranthanall valthu TOELL»
«happy birthday TELL»

Ein buchstäblich schillerndes Stück schweizerisch-tamilischer Gegenwart.

Basel: 2. – 5. März 2005

Zürich: 16. – 19. März

Nach dem Tsunami vom 26. 12. 2004 schien das Stück «happy birthday TELL» stark gefährdet.

Theater ist ein grosses Fest für die Tamilen. Nach einem schlimmen Unglück sollten sie ein Jahr lang kein Fest machen, kein Theater aufführen.

Die tamilischen Mitspielerinnen und Mitspieler haben sich jedoch entschlossen, das Stück mit ihren Schweizer Kolleginnen und Kollegen zur Aufführung zu bringen.

Das Unglück beschäftigt die tamilischen Schauspiler jedoch weiterhin, da noch nicht alle von ihren Verwandten und Bekannten Nachricht bekommen haben.

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