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“Mein Herz blutet”

"Dieser Hund ist das einzige, was ich noch an mich heranlasse." Ernst Spichiger mit einem seiner Hunde auf der Treppe seines Wohnwagens. swissinfo.ch

Ernst Spichiger ist fahrender Kunstmaler. Als ehemaliges "Kind der Landstrasse" leidet er bis heute an seelischen Verletzungen. Mit einem Projekt kämpft er unverdrossen für die Rechte der Jenischen in der Schweiz.

Ein Schotterplatz im Bernischen Oberdiessbach, daneben eine saftig grüne Wiese, etwas weiter der Waldrand. Nur die im Rhythmus des Taktfahrplans vorüberbrausende Eisenbahn zerschneidet die beschauliche Stille über dem Areal, das eine Handvoll Schweizer Fahrender als Durchgangsplatz gewählt hat. Einer von ihnen ist der Kunstmaler Ernst Spichiger: “Ich verdiene mein Geld mit dem Verkauf meiner Bilder. Ich gebe meine Bilder jedoch nur dann her, wenn der Käufer die Geschichte versteht, die ich in meinen Bildern erzähle.”

In der Schweiz leben nach Schätzungen des Bundes 35’000 Fahrende, von denen sich der Grossteil zum Volk der Jenischen zählt. Rund 2’500 Jenische pflegen derzeit noch die fahrende Lebensweise; verbringen also den Winter zumeist auf einem der neun Standplätze, die es in der Schweiz noch gibt, und ziehen während der Sommermonate übers Land – auf der Suche nach Arbeit. Nach alter Tradition hausieren Fahrende mit Textilien und Seilwaren, reparieren Werkzeug, restaurieren Häuser oder handeln mit Antiquitäten.

Auf Ernst Spichigers durch ungebändigten Haarwuchs halb verborgenem Gesicht zeigt sich nur selten ein Lächeln: “Mich beschäftigt die Frage, was man tun kann, damit unsere Kultur nicht untergeht. Was passiert mit unseren Kindern?”

In der Geschichte der Jenischen wimmelt es von Phasen der Verfolgung, Vertreibung und Diskriminierung. Historiker haben in jüngerer Vergangenheit Schwerstarbeit geleistet: Die Quellenlage ist mehr als lückenhaft, und der Forschungs-Gegenstand wirkt bedrückend. Jüngste Enthüllungen brachten der Bericht der Unabhängigen Expertenkommission (UEK) unter der Leitung von Jean-François Bergier und die 1998 veröffentlichte Studie des Zürcher Professor Roger Sablonier über die unheilvolle Aktion “Kinder der Landstrasse”: Rund 600 Kinder sind aktenkundig, welche die Eidgenossenschaft im Verbund mit “Pro Juventute” den Eltern entrissen hat.

Der heute 49-jährige Ernst Spichiger war ein solches “Kind der Landstrasse”, das in der bürgerlichen Gesellschaft hätte domestiziert werden sollen, in Tat und Wahrheit jedoch über Jahre hin- und hergeschoben wurde. Spichigers Stimme erhält ein leises Beben: “Mein Herz blutet, ich bin seelisch krank.” Und in seinem kurz gefassten Lebenslauf schreibt er: “Lange Zeit hatte man mir in den Heimen eingetrichtert, ich sei ein Waisenkind. Erst viel später habe ich gemerkt, dass das nicht stimmen kann. … Meine Mutter und meine Grossmuter fand ich auf dem Friedhof, das Grab meines Vaters habe ich nie gefunden. … Dreimal versuchte ich Selbstmord zu machen. … Ich kann mich heute nicht mehr binden, kann niemanden mehr an mich heran lassen, bin zu keiner Beziehung mehr fähig.”

Plötzlich blitzt es in Spichigers Augen. Es spricht ein aufbegehrender Rebell, einer der nicht aufgeben will: “Der Staat hat unsere Lebensgrundlage zerstört. Er soll sie uns nun gefälligst zurückgeben!” Den offiziellen Organen der Fahrenden in der Schweiz – der Radgenossenschaft und der Stiftung Zukunft für Schweizer Fahrende – schenkt Spichiger wenig Vertrauen: “Die Radgenossenschaft – der angebliche Interessenverband der Fahrenden der Schweiz – wurde 1975 gegründet. Was hat sich seither für uns verbessert? Nichts.”

Spichiger würde sich freuen, wenn das Parlament die Konvention zum Schutz indigener Völker ratifizieren würde: “Das wäre dringend nötig, denn dann hätten wir in Zukunft ein Wort mitzureden. Wir sind ein Urvolk und würden deshalb unter diesen Artikel fallen.”

Auf Artikel und behördliche Verfügungen warten mag Spichiger aber nicht mehr. Seit einigen Monaten ist er mit dem Aufbau eines eigenen Projekts beschäftigt. Es trägt den Titel “Schinagel” – das jenische Wort für Arbeit. Geplant ist ein Basis-Stützpunkt der Fahrenden und ein Sekretariat, das unter anderem eine Job-Börse betreuen würde: “Ich will mit dem Projekt unseren Kindern eine Existenz ermöglichen, die menschenwürdig ist. Wir wollen nicht länger als Abfall der Gesellschaft gelten. Wichtig ist deshalb auch die Schulung unseres Nachwuchses.”

Jenische Kinder sollen nicht mehr länger gegenüber sesshaften Kindern benachteiligt sein, die ohne Unterbrechung dem Unterricht folgen können. Spichiger denkt konkret an ein Beratungstelefon, eine mobile Aufgabenhilfe und mehr Lehrpersonal, welches die Fahrenden begleiten würde – bis hin zum Schinagel-Berufs-Diplom.

Woher nimmt Ernst Spichiger die Kraft für dieses ungeheure Vorhaben? “Wenn ich dieses Projekt realisieren kann, weiss ich, dass meine eigene Geschichte einen Sinn hatte.”

Felix Münger

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