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Wenn die verhasste Autobahn zum neuen alten Dorfplatz wird

Die Autobahn A13 trennt die Gemeinde Roveredo seit 1965 in zwei Teile. CarloPisani@RebelMango.com

Vor über 50 Jahren wurde die Autobahn A13 mitten durch den Südbündner Ort Roveredo gebaut – gegen den Willen der Bevölkerung. Asphalt verdrängte Häuser, Gärten und die einzige Piazza des Dorfes. Doch nun ist mit der Einweihung einer Umfahrung das Ende der Ortsteilung gekommen. Erstmals in der Schweizer Geschichte wird eine Autobahn zurückgebaut und eine Bausünde dieser Dimension beseitigt.

Gianni Losa spricht Klartext: „Es gibt wohl keine andere Person in der Schweiz, die näher an der Autobahn wohnt als ich!“ Tatsächlich ist die Wohnsituation von Losa in Roveredo nicht beneidenswert. Die A13 führt praktisch direkt vor seinem Wohnzimmer vorbei. Es handelt sich um eine wichtige Nord-Süd-Verbindung in der Schweiz via San Bernardino (Chur-Bellinzona).

Nur eine schmale Schutzwand schützt etwas vor dem Lärm, doch gerade das Dröhnen der Lastwagen sei besonders schlimm, meint Losas Partnerin Jole Bianchi. Sie entschuldigt sich für die dicke Staubschicht auf dem Balkon: „Ich putze schon, aber der Dreck kommt eben ständig aus den Auspuffrohren.“

Wenn der Verkehr im Sommer zunimmt, wird das Leben an diesem Ort zu Hölle. Bianchi zieht dann um zur Tochter. „Hier kann ich nicht mal kurz die Fenster zum Lüften öffnen“, sagt sie.

Das Haus von Gianni Losa und Jole Bianchi in Roveredo befindet sich in nächster Nähe zur Lärmschutzwand. CarloPisani@RebelMango.com
Das Haus von Gianni Losa und Jole Bianchi an der Autobahn A13, welche Roveredo einspurig mit Gegenverkehr durchquert. CarloPisani@RebelMango.com

Lärm und Feinstaub sind nicht die einzigen Unannehmlichkeiten für Menschen, die so nahe an einer stark befahrenen Durchfahrtsachse leben. Losa, ein ehemaliger Zöllner, erinnert sich heute noch mit Schaudern an einen tödlichen Verkehrsunfall, der sich just vor seinem Haus ereignet hat: “Ein Lastwagen und ein Auto waren frontal aufeinander geprallt. Ich erinnere mich an das brennende Fahrzeug – es war auf vielleicht eineinhalb Meter zusammengequetscht. Ich bekomme Hühnerhaut, wenn ich dran denke.“

Ein Ort ohne Seele

Für das mittlerweile pensionierte Paar begann der Albtraum 1965. Der Bund hatte entschieden, dass die neue Autobahn durch die Südbündner Talschaft Misox mitten durch den Ort Roveredo verlaufen sollte, parallel zur Bahnstrecke Bellinzona-Misox der Rhätischen Bahn.

Der Entscheid fiel gegen den Willen der Gemeindeversammlung, wie Marco Tognola, ein ehemaliger Journalist und Gewerkschafter aus Roveredo betont: „Die Einwohner hatten sich für einen Tunnel ausgesprochen, doch das Bundesamt für Strassen kümmerte das nicht.“

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Als Folge des Autobahnbaus musste der Vater von Losa einen Teil des Gartens vor dem Haus abtreten. „Dort standen damals viele Obstbäume, es war ein Naturparadies“, erzählt der mittlerweile 78-jährige Losa.

Auch die Eltern von Piergiorgio Mazzolini wurden gezwungen, einen Teil des Umschwungs ihres Hotels am Bahnhof zu verkaufen. Das war für das ganze Dorf besonders schmerzhaft.

„Das Hotel verfügte über eine grosse Terrasse“, erinnert sich Mazzolini. Er war damals ein junger Mann. „Wir organisierten Feste und Konzerte: Bis zu 300 Personen fanden bei uns Platz. Es gab eine Tanzfläche, die im Winter als Eislaufbahn genutzt wurde.“ Es war ein Treffpunkt für den ganzen Ort. „Unsere Terrasse war die Piazza unserer Gemeinde. Mit der Autobahn wurde diese Seele und damit die Identität des Dorfes zerstört.“

Roveredo im Jahr 1953. ETH-e-pics

Mazzolini hat diese „Wunde“, die seinem Heimatort (mit heute 2700 Einwohnern) zugefügt wurde, bis heute nicht überwunden. Er ist zudem überzeugt, dass die Linienführung der A13 nicht nur aus finanziellen Gründen (eine Strasse kostet weniger als ein Tunnel) quer durch Roveredo verlief. 

„Einige Familien befanden sich in finanziellen Schwierigkeiten, aber sie gehörten der richtigen politischen Partei an und standen der Person nahe, die für den Kanton die Landparzellen verwaltete. Der Bau der Autobahn war für diese Familien ein Geschenk des Himmels“, so Mazzolini.

Einige Häuser hätten laut Mazzolini gar nicht abgerissen werden müssen. „Und doch wurden die Besitzer enteignet. Manche haben 30’000 Franken (was heute 100’000 Franken entsprechen würde, Anm.d.Red.) erhalten, sowie ein grösseres Grundstück, auf dem dann drei Häuser gebaut wurden, die heute bis eine Million Franken wert sind.“

Bund gesteht Schuld ein

Die gute Nachricht für die Einwohner von Roveredo kam 1998, als die Schweizer Regierung entschied, eine Umfahrung mit einem Tunnel zu verwirklichen und die A13 in Roveredo auf einer Strecke von drei Kilometern zurückzubauen.

Piergiorgio Mazzolini: “Die Autobahn hat dem Dorf Roveredo seine Seele und Identität genommen.“ CarloPisani@RebelMango.com

„Zum ersten Mal in der Schweiz wurde entschieden, ein Autobahnstück vollständig zurückzubauen und der Gemeinde zurückzugeben“, betont Marco Tognola. Er gehörte zur Delegation, die damals in Bern Vertreter der Eidgenossenschaft traf. „Der Bund räumte ein, einen Fehler begangen zu haben. Das sagte mir der damalige Verkehrsminister Moritz Leuenberger höchstpersönlich“, erinnert sich Tognola.

Die neue Umfahrung wurde im Juni 2014 von der Gemeindeversammlung Roveredos gut geheissen. Gemeindepräsident Alessandro Manzoni ist überzeugt, dass seine Gemeinde nun mit einem hässlichen Stück Geschichte abschliessen kann, das über ein halbes Jahrhundert dauerte. „Die A13 hat stets ein Gefühl von Wut und Verrat erzeugt“, so Manzoni.

Roveredo wird „zugenäht“

Lange wurden die Anliegen der Einwohner von Roveredo nicht gehört. Doch nun können sie sich wahrscheinlich noch vor Ende des laufenden Jahres dazu äussern, in welcher Weise das ausser Betrieb genommene Autobahnstück künftig genutzt werden soll. Der kleine Stadtrat schlägt ein urbanistisches Erschliessungsprojekt vor, mit dem der Ortskern wieder „zugenäht“ werden soll. Vorgesehen sind auf 9500 Quadratmetern Wohnhäuser, Geschäfte und ein unterirdisches Parkhaus. Noch wichtiger ist aber die Tatsache, dass ein Begegnungsraum – eine Piazza – geschaffen wird.

„Die Einrichtung einer zentralen Piazza ist eine notwendige Voraussetzung, damit die von der A13 geschaffene Wunde geheilt werden kann“, sagt Tognola. „Es ist eine gute Sache“, meint auch Mazzolini. Gleichwohl ist er sich bewusst, dass das soziale Leben von einst, als es im Ort mehr als 30 Bars und Restaurants gab (ein Lokal auf 60 Einwohner – ein Schweizer Rekord!), nicht mehr aufleben wird.

Losa ist weniger enthusiastisch: „Die neue Piazza ist viel zu klein – man müsste sie grösser machen.“Doch wichtiger als alles andere ist für Losa und seine Partnerin Bianchi die Tatsache, dass gleichzeitig mit der Einweihung der Umfahrung am 7.November 2016 der Lärm der A13 Geschichte sein wird. „Ohne Lastwagen werde ich wahrscheinlich Mühe haben einzuschlafen“, witzelt Bianchi.

Die neue Piazza von Roveredo gemäss dem von der Gemeinde verabschiedeten Erschliessungskonzept. ©Ti-Press/Luca Gazzaniga architetti

Die Geschichte wiederholt sich

Für die Mehrheit der Einwohner von Roveredo ist die Geschichte der Nationalstrasse 13 (Autobahn) eine traurige Geschichte mit Happy End. Doch für einige Bewohner ist sie das genaue Gegenteil. Wer in der Nähe der neuen Tunnelportale wohnt, musste Land abgeben und wurde dafür entschädigt. Einige haben sich ein neues Zuhause gesucht. Wer geblieben ist und dem Lärm der neuen Umfahrungsstrasse ausgesetzt ist, muss nun die Fenster schliessen.

(Übertragen aus dem Italienischen: Gerhard Lob)

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