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UNO-Sonderberaterin Mô Bleeker: «Alles, was wir aufgebaut haben, wird infrage gestellt»

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«Alles, was wir aufgebaut haben, wird infrage gestellt.» Julia Crawford / SWI swissinfo.ch

In Gaza, Sudan und Myanmar werden ungestraft Gräueltaten verübt. Für Mô Bleeker, Sonderberaterin des UNO-Generalsekretärs für die Schutzverantwortung, war ihre Aufgabe noch nie so dringlich – und so schwierig.

«Auch wenn es sehr schwer ist, muss man weitermachen. Wir befinden uns in einem kritischen Moment», sagt Mô Bleeker.

In der Nähe ihres Hauses am Neuenburgersee in der Schweiz erinnert Bleeker an einen Wendepunkt in der globalen Politik. Er markierte einen «sehr wichtigen normativen Wandel» hin zu einer Welt, die weniger von Konflikten und Grausamkeit geprägt sein sollte.

Vor 20 Jahren erkannten alle Staats- und Regierungschefs der Vereinten Nationen auf dem Weltgipfel 2005 ihre Schutzverantwortung an. Diese Verpflichtung definierte Souveränität – die zuvor hauptsächlich als Recht auf Nichteinmischung verstanden wurde – neu als Pflicht, Bevölkerungen zu schützen und Gräueltaten zu verhindern.

Dazu gehören Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnische Säuberungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

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Heute bildet dieses Prinzip den Kern von Bleekers Arbeit. Im März 2004 wurde sie zur Sonderberaterin des UNO-Generalsekretärs für die Schutzverantwortung ernannt.

Ihre Aufgabe ist es, Generalsekretär António Guterres zu beraten, an welchem Punkt Alarm geschlagen werden sollte, wenn Gräueltaten geschehen oder geschehen könnten.

«Das Prinzip der Schutzverantwortung zieht eine rote Linie, ab der diese Verbrechen nicht mehr geschehen dürfen. Es liegt in der Verantwortung der Staaten, sie zu verhindern, sie zu stoppen, wenn sie geschehen, und die betroffene Bevölkerung zu schützen», sagt Bleeker.

Nach diesem Prinzip hat jeder UNO-Mitgliedstaat die Hauptverantwortung, seine eigene Bevölkerung zu schützen. Wenn Staaten dazu nicht bereit oder in der Lage sind, ist der UNO-Sicherheitsrat verpflichtet, einzugreifen und den Schutz zu gewährleisten. Doch obwohl das Prinzip klar ist, bleibt seine Umsetzung schwierig.

Mangelnde Umsetzung

«Leider beobachten wir einen Mangel in der Umsetzung und an politischem Willen», sagt Bleeker. Dieses Manko sei nicht auf die Schutzverantwortung beschränkt, fügt sie hinzu.

Die gleiche Kluft zwischen Verpflichtung und tatsächlichem Handeln zeige sich auch in anderen Bereichen, in denen die internationale Gemeinschaft Versprechen abgegeben habe, darunter Menschenrechte, humanitäres Völkerrecht und Klimawandel.

Sie verweist auf Gaza, die Ukraine, den Sudan und Myanmar als eklatante Beispiele für das Versagen der Weltgemeinschaft, Kriege zu beenden, die von Gräueltaten oder glaubwürdigen Anschuldigungen solcher Verbrechen geprägt sind.

Im Gazastreifen wurden seit dem 7. Oktober 2023 laut Angaben des von der Hamas geführten Gesundheitsministeriums mehr als 67’000 Menschen getötet. An dem Tag startete Israel als Reaktion auf den Terrorangriff und die Geiselnahmen durch die Hamas eine Militäroffensive. Es gibt Berichte über Todesfälle aufgrund von Unterernährung, da Israel zeitweilig die Hilfslieferungen eingestellt hatte. Zugleich wurde ein Grossteil der zivilen Infrastruktur zerstört.

In der Ukraine wurden Zehntausende Zivilist:innen getötet, seit Russland im Februar 2022 mit einer Grossoffensive in das Land einmarschierte. Der Krieg ist von wahllosen Angriffen auf Zivilist:innen geprägt, einschliesslich Folter, sexueller Gewalt und der Deportation von Kindern.

Im Sudan wurden seit dem Ausbruch des Bürgerkriegs im April 2023 mehr als 150’000 Menschen getötet und etwa zwölf Millionen vertrieben. Die Zivilbevölkerung dort hat Massenmorde, ethnische Säuberungen, sexuelle Gewalt, Folter und gezieltes Aushungern erlitten, während rivalisierende Kräfte ungestraft Krieg führen und die humanitäre Hilfe weiterhin blockiert ist.

Etwa eine Million Rohingya-Flüchtlinge aus Myanmar leben nach einer von der UNO als ethnische Säuberung bezeichneten Militäraktion im Jahr 2017 weiterhin in Lagern in Bangladesch. Seit einem Militärputsch am 1. Februar 2021 herrschen in Myanmar Gewalt und Instabilität.

Das Unvermögen, diese lange Liste von Gräueltaten zu stoppen, spiegelt laut Bleeker die tiefen Gräben innerhalb des internationalen Systems selbst wider.

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Sie verweist auf den fehlenden Konsens im UNO-Sicherheitsrat, in dem die fünf ständigen Mitglieder – die Vereinigten Staaten, Russland, China, Frankreich und das Vereinigte Königreich – jeweils über ein Vetorecht verfügen.

«Es wäre schön, wenn es im UN-Sicherheitsrat einen Konsens gäbe, insbesondere wenn mutmassliche Risiken für Gräueltaten bestehen oder wenn solche begangen werden. Aber das ist derzeit nicht der Fall», so Bleeker.

Im September beispielsweise blockierten die USA zum sechsten Mal mit ihrem VetoExterner Link eine Resolution des Sicherheitsrats zu Gaza, die einen sofortigen und dauerhaften Waffenstillstand und die Freilassung aller Geiseln forderte.

Russland legte wiederum sein VetoExterner Link gegen Resolutionen des Sicherheitsrats ein, die seinen Krieg und seine Militäraktionen in der Ukraine verurteilten, während China mit seinem VetoExterner Link eine UNO-Verurteilung des Militärputschs in Myanmar blockierte.

Eine Frau an einem See
«Leider sehen wir einen Mangel an Umsetzung und einen Mangel an politischem Willen.» Julia Crawford / SWI swissinfo.ch

Geopolitische Spaltungen und Doppelmoral

Auf die Frage, warum die internationale Gemeinschaft in Regionen wie Gaza oder Sudan nicht gehandelt hat, verweist sie auf eine Vielzahl von Faktoren, darunter nicht zuletzt auf die tiefen geopolitischen Spaltungen, die einem kollektiven Handeln im Weg stehen.

«Wir beobachten ausserdem eine sehr negative Dynamik. Verstösse gegen das humanitäre Völkerrecht, Menschenrechtsverletzungen und Gräueltaten bleiben immer häufiger völlig straffrei», sagt sie. «Derzeit stehen wir an einem Punkt, an dem alles, was wir über Jahrzehnte aufgebaut haben, infrage gestellt wird.»

Die Vereinten Nationen wurden nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Ziel gegründet, dauerhaften Frieden zu schaffen. Das Völkerrecht sollte Gräueltaten und staatlicher Aggression ein Ende setzen.

Doch 80 Jahre später stellen zunehmender Extremismus und wiederkehrende Konflikte eine existenzielle Bedrohung für dieses multilaterale System und die UNO selbst dar.

Die westlichen Mächte haben Russland wegen seines Kriegs in der Ukraine wiederholt Sanktionen auferlegt, doch wurde wenig unternommen, um die Zerstörungen in Gaza oder im Sudan zu stoppen. Spiegelt dies ihrer Meinung nach eine problematische Doppelmoral wider?

«Ja, es gibt eine Doppelmoral, und das ist ein grosses Problem. Die Vereinten Nationen sind ein riesiger Apparat, der von Staaten geschaffen wurde. Die Staaten treffen in der Generalversammlung Entscheidungen über Politik, Budgets und so weiter», antwortet sie.

«Staaten reagieren oft empfindlicher auf das Leid in einer Situation als in einer anderen – oder, so kann man auch sagen, je nach nationalem Interesse. Ich würde sagen, dass dies ein ganz normales Problem ist. Aber angesichts des derzeitigen Ausmasses und der Schwere der Folgen ist es unerträglich.»

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Wenn der Schutz versagt: Sudan und Gaza

Laut Bleeker sind nicht nur die ständigen Mitglieder des UNO-Sicherheitsrats für die derzeitige Lage verantwortlich. Auch andere Akteure spielen eine Rolle, darunter Nachbarstaaten, Regionalmächte und private Interessen, die Konflikte anheizen oder ermöglichen.

«Natürlich sind einige Störenfriede aktiver als andere», sagt sie. «Aber es ist die Pflicht jedes Staats, seiner Verantwortung nachzukommen. Alle, die beispielsweise bewaffnete Gruppen im Sudan unterstützen, könnten zur Rechenschaft gezogen und darauf hingewiesen werden: Was Sie tun, ist rechtswidrig.»

Der brutale Bürgerkrieg im SudanExterner Link dauert seit April 2023 an und fordert einen hohen Tribut unter der Zivilbevölkerung. Angeblich sind auch externe Akteure beteiligt, namentlich die Vereinigten Arabischen Emirate, denen die Regierung vorwirft, die paramilitärischen Rapid Support Forces zu unterstützen und Drohnenangriffe im Sudan durchzuführen.

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Auf die Frage, wie sie die derzeitige Lage in Gaza einschätzen würde, verweist Bleeker auf Berichte zweier UNO-Sonderberichterstatter und den jüngsten Bericht der UNO-Untersuchungskommission zu den besetzten palästinensischen Gebieten, einschliesslich Ostjerusalem, und Israel, die zum Schluss kommen, dass ein Völkermord begangen wird.

Im Rahmen der Schutzverantwortung trägt Israel die Hauptverantwortung für den Schutz der Zivilbevölkerung in den Gebieten, die unter seiner Kontrolle stehen, während die internationale Gemeinschaft verpflichtet ist, zu handeln, wenn dieser Schutz versagt.

«Was Kriegsverbrechen betrifft, liegend ausreichen Berichte vor, die diese belegen», sagt sie. «Auch hinsichtlich ethnischer Säuberungen gibt es entsprechende Meldungen, ebenso wie zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Aus der Perspektive der Schutzverantwortung würde ich sagen, dass alle Risikofaktoren bereits vorhanden sind.»

Reagieren erst, «wenn es bereits brennt»

Bleeker sieht eines der grössten Hindernisse bei der Verhinderung von Völkermord und anderen Gräueltaten in einem grundlegenden Missverständnis dessen, was Prävention wirklich bedeutet.

Im Rahmen ihres Mandats setzt sie sich für die Schaffung von Frühwarnsystemen auf nationaler, regionaler und internationaler Ebene sowie für die Stärkung bestehender Systeme ein.

«Das Problem ist die Gewohnheit, erst zu reagieren, wenn es bereits brennt. Doch an diesem Moment ist die Polarisierung am stärksten, die Parteien sind dann bereits voll in Krieg und Gewalt verwickelt», sagt sie.

«Wenn das Haus in Flammen steht, ist es unrealistisch zu glauben, die internationale Gemeinschaft könne einfach und respektvoll, höflich und freundlich entscheiden, das Feuer zu beenden. Hätten wir jedoch viel früher eine Kultur und Politik der permanenten Prävention etabliert, würde das alles verändern.»

Jedes Land, so Bleeker, könne seine eigenen Frühwarnsysteme stärken – ob im Krieg, im Übergang oder im Frieden – im Rahmen dessen, was sie «permanente Prävention» nennt. «Ich denke, wir sollten viel mehr Wert darauf legen, zu verstehen, was das in normalen Zeiten bedeutet», sagt sie.

Indem Staaten Risiken frühzeitig erkennen und handeln, bevor Spannungen eskalieren, können sie Gesetze und Mechanismen schaffen, die künftige Gewalt verhindern und ihre Bevölkerung schützen, argumentiert sie.

Doch diese Vision in die Praxis umzusetzen, ist alles andere als einfach. Bleekers kleines Büro arbeitet mit begrenzten personellen Ressourcen und ist auf freiwillige Beiträge zur Finanzierung seiner Projekte angewiesen.

Die Position der Sonderberaterin selbst ist unbezahlt, und die Ressourcen sind angesichts der vielen Krisen oft knapp. Dennoch schöpft sie Kraft aus einem klaren Sinn für ihre Aufgabe.

«Es ist Mitternacht im Jahrhundert, löscht nicht die Lichter, die noch brennen», sagt sie. «Eines dieser Lichter ist unser Wille und unsere Fähigkeit zu beschützen, zu analysieren und frühzeitig Entscheide zu treffen, die im Einklang mit den Gründungssätzen der Vereinten Nationen stehen.»

Lesen Sie hier die ausführlichere, englische Version dieses InterviewsExterner Link, das zuerst auf Justiceinfo.net veröffentlicht wurde.

Editiert von Virginie Mangin/Dominique Soguel, Übertragung aus dem Englischen mithilfe von Deepl: Petra Krimphove

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