Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

Multiple Sklerose – trauriger Rekord

Prominentes MS-Opfer: Die ehemalige Läuferin und vierfache Goldmedaillen-Gewinnerin Betty Cuthbert entzündete 2000 in Sydney das Olympische Feuer. Keystone Archive

In der Schweiz leiden rund 10'000 Menschen an Multipler Sklerose (MS). Die Krankheit trifft hart und lebenslänglich, denn sie ist unheilbar.

Kaum ein anderes Land ist so stark von MS betroffen wie die Schweiz. Über die Ursachen der Krankheit ist wenig bekannt.

Lucia Schmidlin erlebte ihren ersten MS-Schub vor 18 Jahren im Zug. “Ich stand auf und hatte das Gefühl auf Watte zu gehen, Gefühllosigkeit bis zu den Knien. Schwankend wie ein Schiff kletterte ich aus dem Zug.”

Lucia fuhr umgehend ins Spital und liess sich untersuchen. Diagnose: Hoher Verdacht auf Multiple Sklerose.

Für die damals 29jährige Frau brach eine Welt zusammen. Lucia wusste genau, was auf sie zukam. Schon ihr Vater war an MS erkrankt und seit ihrer frühen Kindheit an den Rollstuhl gefesselt. Die Lähmungs-Erscheinungen des ersten Schubes hielten bei Lucia Schmidlin vier Wochen an.

Die Auslandschweizerin kehrte in die Schweiz zurück. Angesichts der Krankheit war ihr die Nähe zu ihrer Familie wichtig. “Ab jetzt gelte physische und psychische Schonkost, sagte mir einer der Ärzte, dabei stand ich doch in der Blüte meines Lebens.”

Die darauffolgende Zeit war intensiv. Lucia entdeckte das Bergsteigen, machte eine Zusatzausbildung, engagierte sich, wo immer sie konnte.

Acht Jahre nach ihrem ersten Schub begann sich ihr Zustand wieder zu verschlechtern, die Symptome wie Stolpern, Konzentrations-Schwäche, Erschöpfung wurden immer stärker. Heute kann Lucia nicht mehr gehen und ist ständig auf den Rollstuhl angewiesen.

Ursache unbekannt

In der Schweiz ist etwa eine Person auf 900 Einwohner von MS betroffen, aber nur ein kleiner Teil der Patienten benötigt im Verlauf der Krankheit einen Rollstuhl.

Multiple Sklerose ist die häufigste Erkrankung des Zentralnervensystems. Noch weitgehend ungeklärte Immunreaktionen führen zu Entzündungen und Zerstörungen von Nervengewebe, das nicht mehr neu gebildet werden kann.

Die gesundheitlichen Schädigungen reichen von Gleichgewichts- und Sehstörungen bis zu Lähmungen.

Die Krankheit trifft meist Menschen im Alter zwischen 25 und 40, mehr Frauen als Männer. MS ist nicht tödlich und auch die Lebenserwartung ist im Vergleich zur Normalbevölkerung nur wenig eingeschränkt.

Die Häufigkeit von MS beträgt je nach Land 20 bis 180 Fälle pro 100’000 Einwohner. Es besteht ein Nord-Süd-Gefälle mit 140 pro 100’000 Einwohner in Schottland und 40 Fällen pro 100’000 Einwohner in Sizilien. Mit 110 Fällen auf 100’000 ist die Krankheit in der Schweiz überaus häufig.

“Solange die Ursachen der Krankheit nicht genau bekannt sind, kann man auch nicht begründen, warum die Schweiz so stark von MS betroffen ist”, erklärt Professor Jürg Kesselring, Chefarzt der Rehabilitations-Klinik Valens.

Fest steht einzig, dass die Häufigkeit der MS weltweit nicht gleichmässig verteilt ist und auf der nördlichen Halbkugel die Häufigkeit gegen den Pol hin eher zunimmt. Verschiedene Hypothesen versuchen dieses Phänomen zu erklären: genetische Dispositionen könnten eine Rolle spielen, Ernährungs-Gewohnheiten oder Umweltfaktoren.

Zwillingsstudien bestätigen mit einer Konkordanzrate von ungefähr 25%
bei eineiigen Zwillingen den genetischen Einfluss. Genetische Faktoren
allein sind aber nicht ausreichend, um die Krankheit zum Ausbruch zu bringen.

Lebensqualität verbessern

Ohne Kenntnis der Krankheitsursachen beschränkt sich die Therapie vor allem auf die Linderung der Symptome und die Verbesserung der Lebensqualität der Betroffenen. Dabei sind in den letzten Jahren wesentliche Fortschritte erzielt worden.

“Seit etwa zehn Jahren hat man neue Medikamente, die den Verlauf der Krankheit günstig beeinflussen. In dem Sinn, dass sie die Zahl der Schübe verringern und das Fortschreiten der Krankheit etwas verlangsamen”, erklärt Kesselring.

Vom eigentlichen Ziel aber, der Krankheit vorbeugen oder gegen sie impfen zu können, sei man noch weit entfernt.

Heute leben deutlich mehr Menschen mit der Diagnose MS. Dies, weil einerseits die Betroffenen deutlich länger überleben und andererseits die Diagnose stark verbessert worden ist. Die Prognose über den Krankheitsverlauf ist im Einzelfall aber sehr schwierig.

Experten auf der Betroffenenseite

MS trifft die Betroffenen in ihren aktivsten Lebensjahren und bedeutet für jeden einzelnen von ihnen eine existenzielle Herausforderung.

Kesselring ist überzeugt, dass gerade im Umgang mit dieser Diagnose und mit den Krankheitsauswirkungen die Selbsthilfegruppen oder Organisationen wie die Schweizerische Multiple Sklerose Gesellschaft eine zentrale Bedeutung haben.

“Es ist wichtig, dass die Betroffenen die Gelegenheit haben, sich mit kompetenten Leuten auszutauschen, und die kompetentesten sind natürlich ihre anderen Mitpatientinnen und Mitpatienten. Wir Ärzte oder Psychologinnen und Psychologen können sicher einiges dazu beitragen, aber gerade im Umgang mit chronischen Kranken sind die Experten auf der Betroffenenseite.”

Wirkliches Verständnis finde man nur bei Mitbetroffenen, bestätigt Lucia Schmidlin. “MS ist eine komplexe Krankheit mit so vielen Symptomen. Die ‘Zweibeiner’ verstehen nicht, was in den Kranken vor sich geht.”

Doch viele Betroffene würden ihre Krankheit so lange wie möglich verheimlichen. “Sie überfordern sich ständig, scheitern und leiden still.”

swissinfo, Hansjörg Bolliger

Multiple Sklerose ist eine Erkrankung des Zentralnervensystems, bei der das Myelin durch fehlgeleitete Abwehrzellen allmählich zerstört wird.
Myelin ist eine weisse, fettähnliche Substanz, welche die Nervenfasern umhüllt und die Neuronen isoliert.
Durch MS entstehen zahlreiche Entmarkungsherde im Gehirn und Rückenmark.
Die Krankheit verläuft häufig in Schüben. Zunächst bleiben nur wenige Nachwirkungen zurück, aber mit der Zeit entwickeln sich bleibende Behinderungen.

MS-Symptome:
Müdigkeit,
Temperatur-Schwankungen,
Blasen-/Darm-/sexuelle Dysfunktion,
Ungeschicklichkeit,
Schwäche,
Tremor,
Sensibilitäts-Störungen,
Mobilitäts-Einschränkungen,
Spastizität,
kognitive Störungen,
Schwindel,
Gleichgewichts-Störungen,
Sehstörungen,
Sprech-/Schluckstörungen,
Schmerzen.

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft