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Haiti: Nicht nur vom Erdbeben erschüttert

15-jähriges Mädchen bei ihrer Arbeit als Haushaltshilfe in einer Familie in Port-au-Prince. Keystone

Das schwerste Erdbeben seit 200 Jahren in Haiti hat am 12. Januar den Karibikstaat erschüttert. Neben Naturkatastrophen ist das Land auch von Armut, Korruption, politischer Gewalt und Umweltzerstörung geplagt, wie eine Schweizer Hilfswerk-Vetreterin erklärt.

«Die Situation für die Menschen in Haiti ist schlimm. Die Überlebenden schlafen im Freien, sie suchen in den Trümmern nach den vermissten Angehörigen», sagt Gisela Wattendorf, seit sechs Jahren Programmverantwortliche für Haiti bei der Caritas Schweiz. «Wir hatten erste Kontakte mit unserem Koordinator vor Ort. Er konnte wegen der zerstörten Strassen noch nicht so viel herumfahren, und auch die Telefonverbindungen mit ihm waren sehr schlecht.»

Der Koordinator habe aus Port-au-Prince berichtet, dass auch die UNO-Mission (Minustah) vor Ort betroffen wurde, sagt Wattendorf gegenüber swissinfo.ch. «Das Gebäude, in dem die UNO-Leute versammelt waren, stürzte ein.» Sehr viele Gebäude, vor allem in der Innenstadt, seien zerstört worden, «unter anderem auch das Koordinationsbüro der Caritas Schweiz, ebenso die Kathedrale und das Regierungsgebäude».

Geplagter Inselstaat

Armut, Kriminalität, Korruption, Misswirtschaft, gewaltsame politische Revolten, Militärputschs, Umweltzerstörung und Naturkatastrophen: Die Geschiche der einst reichen französischen Karibik-Kolonie ist eine einzige Katastrophe.

«Ein Problem reiht sich an das andere, und alle hängen zusammen», sagt Gisela Wattendorf. «Die Umweltzerstörung ist sehr schlimm. Nach grösseren Niederschlägen kommt es oft zu Überschwemmungen. Dies weil die Erde erodiert ist, die Wälder abgeholzt sind. Das ist natürlich auch auf eine schlechte oder nicht vorhandene Politik zurückzuführen.»

Auch häufige Naturkatastrophen wie Dürren und Erdbeben verschlimmern die Lage der mehr als neun Millionen Einwohner immer wieder. So starben allein zwischen 2004 und 2008 bei Hurrikans und Überschwemmungen mehr als 5500 Menschen, etwa 1,1 Millionen Haitianer wurden obdachlos.

Die staatlichen Strukturen in Haiti seien sehr schwach. «Es gibt keine einheitliche Strategie, wie man diese Umweltprobleme in den Griff kriegen kann.» Diese Überschwemmungen würden die Armut akzentuieren, erklärt die Haiti-Programmverantwortliche der Caritas.

«Die Leute sind sehr arm. 80 Prozent der Bevölkerung verdienen weniger als zwei US-Dollar pro Tag, 50 Prozent sogar weniger als einen US-Dollar. Es ist eine äusserst prekäre Situation.»

Immer wieder politische Gewalt

In Haiti kommt es immer wieder zu politischer Gewalt. Es ist eines der Länder, in denen es am meisten politische Umstürze gab, allein über 30 Militärputschs. «Die Präsidenten wechseln oft, man versucht immer wieder neu anzufangen, findet aber nie eine Lösung für die Probleme», so Wattendorf.

Traurige Berühmtheit erlangte das Nachbarland der Dominikanischen Republik während der fast 30-jährigen Diktatur der Familie Duvalier. Zehntausende Haitianer wurden während der brutalen Herrschaft von François «Papa Doc» Duvalier (1957 bis 1970) ermordet. Nach dessen Tod führte sein nicht weniger skrupelloser Sohn Jean-Claude «Baby Doc» Duvalier die Familiendiktatur fort. Sie endete 1986, als Hungerrevolten ihn zur Flucht ins Ausland zwangen.

Zwischen dem Duvalier-Clan und der Schweiz gab es ein jahrelanges juristisches Seilziehen um die Gelder des gestürzten Diktators. Im August 2009 wies das Bundesstrafgericht die letzte Beschwerde gegen die Herausgabe der in der Schweiz blockierten Duvalier-Gelder in der Höhe von rund 7 Mio. Franken ab. Damit konnten die Gelder an die Republik Haiti gehen.

Veränderungen, aber keine Verbesserungen

Nach chaotischen Jahren und wiederholten Militärputschen wurde der katholische Priester Jean-Bertrand Aristide Ende 1990 zum neuen Präsidenten gewählt. Doch bereits im September 1991 wurde der Hoffnungsträger der Bevölkerung vom Militär gestürzt und ins Exil gezwungen. Erst nach dem Einsatz von 20’000 US-Soldaten im Herbst 1994 konnte Aristide wieder zurückkehren.

Die Hoffnungen der Haitianer auf mehr Ruhe und Sicherheit währten aber erneut nicht lange. Eine zweite Amtszeit Aristides stand bereits zu Beginn im Februar 2001 unter den Vorwürfen von Wahlmanipulationen, Machtmissbrauch und Korruption.

Die Opposition erkannte seinen Wahlsieg nicht an und organisierte grosse Proteste. Am 29. Februar 2004 wurde Aristide in einer blutigen Rebellion und auf Druck der USA und Frankreichs gestürzt. Seitdem soll eine UNO-Friedensmission (Minustah) für Sicherheit und Ordnung sorgen.

«Es hat viele Veränderungen gegeben in dem Land, aber es ist nicht besser geworden», bilanziert Gisela Wattendorf. Die politische Lage habe sich in den letzten Monaten zwar ein Bisschen beruhigt, «für haitianische Verhältnisse war die Situation gar nicht so schlecht». Aber die Erdbebenkatastrophe werde sicher schwerwiegende Auswirkungen auf die Politik haben, die immer noch nicht stabil sei.

Internationaler Einfluss nicht immer gut

Gisela Wattendorf weist auf den internationalen Einfluss in Haiti hin. «Ausländische Regierungen mischen sich oft ein, haben Einfluss auch auf die Wirtschaft Haitis, und das ist nicht immer zum Guten.»

Importe aus dem Ausland, besonders aus den USA, hätten negative Auswirkungen auf die Preise im Land gehabt. «Importierter Reis war billiger als dasselbe Produkt auf dem lokalen Markt. Das führte dazu, dass die Reisproduktion in Haiti massiv zurückgegangen ist.»

Die einheimische Landwirtschaft ist überhaupt in einer besonders heiklen Lage: Weil fast alle Wälder gerodet sind, sind die Folgen der Naturkatastrophen besonders verheerend. Wegen des vielerorts verwitterten und unfruchtbaren Bodens können die Bauern laut Welthungerhilfe nur noch knapp die Hälfte des Nahrungsmittelbedarfs decken.

Grundnahrungsmittel sind für viele Menschen unbezahlbar. Armut und Gewalt haben im letzten Jahrzehnt über drei Millionen Haitianer ins reichere Ausland getrieben. «Eine Tendenz, die auch nach dem Erdebeben weitergehen wird», meint Gisela Wattendorf.

Jean-Michel Berthoud, swissinfo.ch

Die Caritas Schweiz ist seit über 20 Jahren in Haiti engagiert, vor allem in Landwirtschafs- und Kinder-Projekten (Ausbildung, Schulen).

Caritas unterstützt auch die Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern, was oft sehr notwendig ist, weil das Bildungsniveau in Haiti nicht sehr hoch ist.

In der Landwirtschaft ist Caritas vor allem bei Wasserprojekten engagiert. Den Bauern wird geholfen, sich zu organisieren, um die Bewässerungsanlagen, die oft sehr zerfallen sind, zu sanieren und damit die Erträge zu verbessern.

Ferner hilft Caritas Partnern vor Ort in der Organisationsentwicklung. Ein weiterer Hilfsbereich ist Notfall und Rehabilitation.

Ein sechsköpfiges Team des Schweizerischen Korps für Humanitäre Hilfe (SKH) ist auf dem Landweg im haitianischen Erdbebengebiet eingetroffen.

Die Experten mussten von der benachbarten Dominikanischen Republik auf dem Landweg nach Haiti reisen. Eine Landung auf dem Flughafen von Haitis Hauptstadt Port-au-Prince sei nicht möglich gewesen, da der Kontrollturm zerstört sei, erklärte SKH-Chef Toni Frisch.

Am 14. Januar ist in Zürich eine Maschine mit einer zweiten Gruppe von Schweizer Helfern gestartet. Unter den zwölf Personen befinden sich Spezialisten der medizinischen Nothilfe, der Versorgung mit Trinkwasser sowie Baufachleute, teilte das Schweizer Aussenministerium (EDA) mit.

Die schweizerische Spendenorganisation Glückskette kündigte einen nationalen Spendentag für die Opfer der Erdbebenkatastrophe in Haiti an. Dieser soll nächste Woche stattfinden. Derweil erhöhte sich der von Glückskette und Partnern gesprochene Betrag für die Soforthilfe auf rund drei Mio. Franken.

swissinfo.ch

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