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Antoine Chollet: «Im Ausnahmezustand ist die Gefahr einer übermässigen Machtballung sehr real»

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Vier Mitglieder der Schweizer Regierung diskutieren am Montag, den 16. März, nachdem sie den Medien mitgeteilt haben, dass sich das Land aufgrund der Covid-19-Pandemie in einer "ausserordentlichen Lage" befindet. Keystone / Anthony Anex

Die Schweizer Regierung hat eine "ausserordentliche Lage" im Sinne des Epidemiengesetzes erklärt. Damit hat sie sich selbst volle Befugnisse bei der Bewältigung der Covid-19-Pandemie eingeräumt. Antoine Chollet, Politikwissenschaftler an der Universität Lausanne, ist besorgt über die fehlende Validierung und Kontrolle durch das Parlament.

Die Schweiz erlebt mit der raschen Ausbreitung des Coronavirus Sars-CoV-2 eine grössere Gesundheitskrise. Die Regierung (Bundesrat) hat beispiellose Massnahmen ergriffen, welche die Grundfreiheiten des Einzelnen beeinträchtigen: Einschränkungen der Bewegungsfreiheit und ein Versammlungsverbot.

Um schneller auf die Entwicklung der Pandemie reagieren und zusätzliche Massnahmen ergreifen zu können, hat der Bundesrat die im EpidemiengesetzExterner Link vorgesehene «ausserordentliche Lage» erklärt und sich damit selbst volle Kompetenzen eingeräumt. Die Landesregierung muss die Kantone nicht mehr konsultieren, bevor sie neue Massnahmen einführt.

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Antoine Chollet ist Dozent und Forscher am Institut für politische Studien der Universität Lausanne. Er interessiert sich besonders für das Funktionieren der Demokratie. hors-serie.net

Das Parlament hatte kein Mitspracherecht. Es musste die laufende Session unterbrechen und sich mitten in einer Pandemie neu organisieren, da wegen des Ansteckungsrisikos nicht so viele Menschen im Bundeshaus zusammenkommen sollten. Dieser Mangel an Kontrolle und Validierung der Gesetzgebung stellt aus demokratischer Sicht ein Problem dar, sagt Antoine CholletExterner Link, Dozent und Forscher am Institut für politische Studien der Universität Lausanne.

swissinfo.ch: Die Schweiz befindet sich in einer «ausserordentlichen Lage» im Sinne des Epidemiengesetzes. Genügt Ihrer Meinung nach diese gesetzliche Grundlage, um den gegenwärtigen Notstand auszulösen und zu rechtfertigen?

Antoine Chollet: Man sollte Juristen um Präzisierungen bitten, da das Epidemiengesetz ungenau ist und nicht viel darüber aussagt, was der Bundesrat in solchen Situationen tun kann. Zumal das Notrecht, also eine «unbeschränkte Vollmacht», in der Verfassung nicht vorkommt.

Dies stellt aus demokratischer Sicht ein sehr ernstes Problem dar. Die Verfahren zum Notstand sollten der Bundesversammlung die Kompetenz geben, über die ausserordentliche Lage zu entscheiden. Es ist absolut zentral, dass das Organ, das den Ausnahmezustand ausspricht, nicht dasselbe Organ ist, das die Notstandssituation verwaltet.

swissinfo.ch: Hätte der Bundesrat die Zustimmung des Parlaments einholen müssen, bevor er diese «ausserordentliche Lage» ausspricht?

A.C.: Mir scheint: Ja. Natürlich ist es kompliziert, weil Dringlichkeit besteht. Aber es ist auch möglich, Entscheidungen im Nachhinein von der Bundesversammlung bestätigen zu lassen. Weil die Pandemie das Parlament an der Session hindert, sollten aber zumindest Vertreter der Legislative auf dem Laufenden gehalten werden und die Entscheidungen der Regierung auf die eine oder andere Weise validieren.

Ich weiss nicht, wie das im Moment funktioniert, aber ich wage zu hoffen, dass die Büros beider Kammern ständig zusammensitzen und stündlich alles verfolgen, was der Bundesrat tut, um die Parlamentarier und Parlamentarierinnen über das Geschehen zu informieren. Dies ist ein entscheidendes Element bei der demokratischen Bewältigung der ausserordentlichen Lage.

swissinfo.ch: Warum ist es so wichtig, dass das Parlament noch ein Mitspracherecht hat?

A.C.: Dafür gibt es einen grundsätzlichen Grund, nämlich die in unserer Verfassungsordnung vorgesehene Gewaltenteilung und die gegenseitige Kontrolle, welche die Gewalten übereinander ausüben. Zudem besteht im Ausnahmezustand immer die Gefahr einer übermässigen Monopolisierung der Macht durch das Organ, das in der Ausnahmesituation handelt, in diesem Fall durch den Bundesrat.

Ich erinnere daran, dass die verfassungsrechtlichen Bestimmungen über die Gesetzgebung bei Dringlichkeit in Artikel 165 dem Bundesrat und dem Parlament durch eine Volksinitiative auferlegt wurden. Diese wurde nach dem Zweiten Weltkrieg lanciert, um genau auf diese Exzesse der vollen Befugnisse der Regierung hinzuweisen.

Es besteht immer die Gefahr, dass die Regierung ihre Befugnisse überschreitet, und noch gravierender ist die Gefahr, dass Entscheidungen, die während des Ausnahmezustands getroffen werden, in der üblichen Gesetzgebung verankert werden. Deshalb muss eine klare Unterscheidung zwischen normalen und aussergewöhnlichen Situationen getroffen werden.

swissinfo.ch: Hätte der Bundesrat also das in der Verfassung vorgesehene Verfahren für dringende Fälle anwenden sollen?

A.C.: Die Bundesverfassung weist in dieser Hinsicht Mängel auf, was problematisch ist. Notfälle müssen nicht unbedingt militärisch sein; sie können eine Epidemie, eine Naturkatastrophe grossen Ausmasses oder die Explosion eines Atomkraftwerks sein. In jedem Fall ist es wichtig, dass das Parlament einbezogen wird.

Mich hat die Pressekonferenz in den Vereinigten Staaten von Mike Pence, dem Vizepräsidenten, sehr beeindruckt. Er zitierte bei mehreren Gelegenheiten den Kongress und den Austausch, den er mit gewissen Mitgliedern geführt hat. Der Bundesrat sollte diesem Beispiel folgen und bei jeder öffentlichen Intervention daran erinnern, dass er nicht nur Armee, Gesundheitsdienste und Kantone, sondern auch das Parlament konsultiert hat.

Und was für die Bundesversammlung gilt, gilt auch für die Parlamente in den Kantonen: Von den kantonalen Exekutiven habe ich bisher nicht gehört, dass ihre Parlamente in den Entscheidungsprozess einbezogen wurden. 
 

Das Schweizer Parlament hat am Donnerstagabend in einer PressemitteilungExterner Link erklärt, dass es seine Arbeit trotz der Krise fortsetzen wird. Die Sitzungsdaten für die Mai- und Juni-Session bleiben bis auf Weiteres bestehen.

Das Parlament gibt aber nicht an, wie das in der Praxis aussehen könnte. Die Büros beider Kammern geben an, dass die Delegationen Fragen des Krisenmanagements, wie z.B. die dringenden Kredite des Bundesrates, prüfen werden. Die Präsidenten stünden in engem Kontakt mit dem Bundesrat und würden laufend über die geplanten Massnahmen informiert.

(Übertragung aus dem Französischen: Sibilla Bondolfi)

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