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Der Mensch kommt nicht (mehr) zur Ruh

Schweizer schlafen 40 Minuten weniger lang als vor 30 Jahren. Verantwortlich dafür sei die "Always-on-Gesellschaft", die ständige Erreichbarkeit im Banne der modernen Kommunikationsmittel, sagt eine Studie. Keystone

Wenn wir ihn nicht finden, verzweifeln wir. Wenn wir in ihn versinken, erholen wir uns. Wird er uns entzogen, werden wir krank und depressiv. Der Schlaf - eine biologische Notwendigkeit, von welcher der moderne Mensch immer weniger Gebrauch macht. Diese Entwicklung birgt gesundheitliche, aber auch wirtschaftliche Risiken.

In den Medien zirkulieren bereits Begriffe wie “übermüdete Gesellschaft”, “Dauer-Jetlag” oder “Pandemie der Schlaflosigkeit”. Und in der Tat: Der Schlaf des Menschen wird immer kürzer und schlechter. So schlafen die Schweizer an Werktagen 7 Stunden und 30 Minuten, das sind 40 Minuten weniger als vor 30 Jahren. Ein Viertel der Befragten schläft eher mittelmässig oder schlecht. 

Schweizer Schlafgewohnheiten

Durchschnittlich schlafen die Schweizer heute 40 Minuten weniger als vor 30 Jahren, nämlich pro Nacht an Werktagen 7,5 Stunden, an freien Tagen 8,5.

In der Regel schlafen Teenager mehr als 7 Stunden pro Nacht, ältere Menschen weniger als 7.

Die Schweizer gehen auch später zu Bett als vor 30 Jahren, nämlich um 47 Minuten.

Die von den Befragten benötigte Schlafdauer wurde mit 7 Stunden angegeben, das sind 41 Minuten weniger als vor 30 Jahren.

Im Vergleich zu anderen Ländern schlafen die Schweizer länger. In Frankreich wird an Werktagen 6,9, an freien Tagen 8 Stunden geschlafen, in Grossbritannien 6,9 bwz. 7,3 und in den USA 6,8 bez. 7,4 Stunden.

(Quelle: Universitäten Basel und Zürich)

Dies ergab eine Ende 2014 veröffentlichte Studie der Universitäten Basel und Zürich sowie des Bundesamts für UmweltExterner Link. Die Verfasser der Studie erklären sich dieses Phänomen mit der “Always-on-Gesellschaft” und ständigen Erreichbarkeit im Banne von Smartphone, Tablet und Computer sowie mit der Veränderung der Arbeitswelt und der sozialen Aktivitäten spät abends.

“Eigentlich sollte der Mensch merken, wie viel Schlaf er braucht. Aber viele sind sich nicht einmal bewusst, dass Schlafmangel negative Folgen haben kann”, sagt Christian Cajochen, Chronobiologe und Schlafforscher an der Universität Basel gegenüber swissinfo.ch. “Die Leute müssten auch wissen, was Schlafhygiene ist. Aber viele kennen nicht einmal den Begriff.”

Unter Schlafhygiene versteht der Experte etwa die so genannten “Grossmutterregeln”, wie kein Kaffee am Abend, Strom– und Lichtquellen im Schlafzimmer minimieren, regelmässige Schlafenszeiten einhalten usw.

Der Schlaf – ein Rätsel

Weshalb wir schlafen, hat auch die Wissenschaft bislang nicht genau erklären können. Klar ist lediglich, dass wir ihn brauchen, den Schlaf. Dieses nächtliche Abtauchen macht unseren Körper und Geist spürbar fit für den nächsten Tag und hilft, Erlebtes zu verarbeiten. “Es ist ein biologisch vorbestimmter Rhythmus, weil wir eine tagaktive Species sind”, sagt Cajochen.

Auch wenn das Schlafbedürfnis individuell verschieden ist, es Kurz- und Langschläfer gibt, so ist für den Schlafforscher klar, dass es ein Limit gibt. “Wir wissen aus Labor-Untersuchungen, dass ein mittlerer Schlafmensch bei nur sechs Stunden Schlaf über zwei Wochen in ein Schlafdefizit kommt und etwa so fit ist, wie wenn er 24 Stunden nicht geschlafen hat.” Leute, die gewohnt seien, nur wenig zu schlafen, realisierten den Schlafmangel meistens nicht.

Winterschlaf

Im Winter schlafen 40% der in der Studie befragten Personen etwas länger als sonst. Von einem “Wintermodus” könne aber nicht die Rede sein, sagt Cajochen. “Früher hatte man keine andere Wahl, als irgendwann ins Bett zu gehen, wenn es dunkel wurde. Heute jedoch kann man mit dem Kunstlicht die Nacht zum Tag machen. Das hat Vorteile, aber eben auch Nachteile.” Man missachte so die von der Natur vorgegebenen Rhythmen, was gesundheitliche Folgen haben könne.

Soll der Mensch also vom Tier lernen und sich wie Igel und Murmeltier einen Winterschlaf oder wie der Bär eine Winterruhe gönnen? “Das kann er nicht, dafür ist er physiologisch inkompetent”, erklärt Bernd Schildger, Direktor des Tierparks Dählhölzli in Bern. “Der Bär kann in den nördlichen Regionen Europas 3 bis 4 Monate Winterruhe machen und nimmt in dieser Zeit weder Nahrung noch Wasser auf. Dazu sind wir nicht in der Lage.”

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Dem Menschen würde es jedoch gut tun, nicht ständig von Ziel zu Ziel zu hetzen, ohne sich um den Weg zu kümmern. “Der Ausweg des Menschen führt nicht über einen nackten Entscheid, eine Winterruhe zu machen. Wir müssen uns darüber bewusst werden, dass es nicht unseren physischen und psychischen Ressourcen entspricht, 24 Stunden aktiv zu sein”, sagt Schildger, der sich selber als Vielschläfer bezeichnet.

Schlafmangel – ein Sicherheitsfaktor

Klar ist, dass Schlafmanko die Leistungsfähigkeit, die Urteilskraft, aber auch die Konzentration beeinträchtigt. “Reaktionstests haben ergeben, dass eine übermüdete Person verlangsamt ist und ein Sicherheitsrisiko darstellt”, erklärt Christian Cajochen. “Sie hat eine Performanz wie jemand, der 1 Promille Alkohol im Blut hat. Es besteht ein Risiko für Mikroschläfchen. Diese Sekundenbruchteile, wo man wegtritt, können beim Autofahren verheerende Folgen haben. Leider gibt es aber keinen “Blastest” für die Schläfrigkeit am Steuer, wie es ihn für den Alkohol gibt.”

Der Wissenschaftler sagt auch, dass unter Schlafdruck das Risiko, falsche Entscheide zu fällen, erhöht sei. Bedenkt man, dass an Konferenzen und Sitzungen, die nicht selten bis in alle Nacht dauern, wichtige Entscheide in Sachen Weltpolitik, Wirtschaft oder Klima getroffen werden, so gibt das zu denken. “Für solche Konferenzen müsste man eigentlich ein vernünftiges Schlaf-Wachregime vorschreiben. Unter dem Strich wäre es wahrscheinlich besser, man liesse die Leute anständig schlafen, als dass sie sich schlafdepriviert durch Monstersitzungen quälen.”

Schlafmangel – ein Gesundheitsfaktor

Hinzu kommt, dass zu wenig Schlaf auch schlecht ist für den Stoffwechsel sowie Übergewicht und Herz-Kreislauf-Erkrankungen begünstigt. Und: “Ein hohes Risiko, Depressionen zu entwickeln, sind Schlafprobleme. Bei über 90% der depressiven Patienten beginnt die Depression mit einer Schlafstörung.”

Laut dem Experten wird der Schlaf auch vom Hausarzt häufig unterschätzt. Bei Schlafproblemen würden Tabletten verschrieben, die auf die Länge keine Lösung sind. “Es gibt im Prinzip kein ideales Schlafmittel. Schlafgestörte Menschen soll man in zertifizierten Schlafkliniken behandeln, von denen es viele gibt in der Schweiz. Dort werden primär nicht Medikamente verschrieben, sondern es wird versucht, das Problem an der Wurzel zu packen.”

Ausgeschlafene Leute sind produktiver, funktionstüchtiger, bauen weniger Unfälle und sind besser drauf. Es gibt bereits HR-Abteilungen in der Schweiz, die sich für den Schlaf interessieren. “Sie sind sich bewusst, dass gesunde und ausgeschlafene Mitarbeiter die Arbeitsausfälle positiv beeinflussen.”

Schlafmangel dagegen ist ein Risiko und kostet die Gesellschaft einen Haufen Geld. In der Presse wird der Betrag für die Schweiz pro Jahr auf 1,5 Mrd. Franken geschätzt.

Schlafmangel – eine Kostenfalle

Laut Cajochen wird der Schlaf vermehrt als Gesundheitsfaktor wahrgenommen und sollte auch ein Thema für die Politik und Gesundheitsvorsorge sein. “Meines Erachtens ist es die Aufgabe des Staates, die Schlafhygiene zu fördern, wie es vom Bundesamt für Gesundheit (BAG) auch etwa in Sachen Ernährung getan wird. Es handelt sich um einen wichtigen gesellschaftlichen Aspekt, der Kosten verursacht.”

Der Schlafforscher könnte sich vorstellen, dass das BAG eine Präventionskampagne startet, in der z.B. Kurznickerchen, so genannte Powernaps, gefördert oder Schichtarbeiter und Lastwagenfahrer über die Wichtigkeit des Schlafes besser beraten und informiert würden. 

Beim BAG ist das Thema Schlafmangel als Kostenfalle noch nicht angekommen. “Es ist bei uns nicht auf dem Radar, im Moment haben wir keine Präventionskampagne geplant. Von Seiten der Politik kommt kein Druck, wie das etwa bei der Ernährung oder bei Drogen geschehen ist”, sagt BAG-Pressesprecher Daniel Dauwalder gegenüber swissinfo.ch.

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