Ernst Ludwig Kirchner, ein «echter deutscher Künstler», der in der Schweiz seinen Frieden suchte
Obwohl er oft als Inbegriff eines deutschen Künstlers gilt, lebte der expressionistische Maler und Bildhauer Ernst Ludwig Kirchner die letzten 20 Jahre seines Lebens in Davos. Fast ein Jahrhundert nach seiner 1933 in der Berner Kunsthalle kuratierten Einzelausstellung zeigt das Kunstmuseum Bern diese Schau erneut – mit Unterstützung des deutschen Bundeskanzlers.
In diesem Sommer verliess Ernst Ludwig Kirchners monumentales Gemälde «Sonntag der Bergbauern» zum ersten Mal das Bundeskanzleramt in Berlin.
Sein prestigeträchtiger Platz in den vergangenen 50 Jahren im Sitzungssaal des Kabinetts hatte dem Bild regelmässige Auftritte in den abendlichen Fernsehnachrichten verschafft.
Ein Kran war nötig, um das vier Meter lange Gemälde zunächst in jenen Hof hinabzulassen, in dem Bundeskanzler Friedrich Merz Staatsoberhäupter empfängt.
Von dort aus wurdes es anschliessend für die aktuelle Ausstellung «Kirchner x Kirchner» ins Kunstmuseum Bern transportiert. Im Rahmen eines vorübergehenden Tauschs erhielt das Kanzleramt für den Kabinettssaal das Gemälde «Neue Sterne» der Schweizer Künstlerin Meret Oppenheim.
Das Gemälde «Sonntag der Bergbauern» ist nun neben einem weiteren Bild Kirchners mit den gleichen Massen zu sehen: «Alpsonntag. Szene am Brunnen».
Diese beiden riesigen Leinwände, dominiert von leuchtenden Violett-, Grün- und tiefen Blautönen, die Bergbauern und ihre Familien bei ihrer Freizeit im Freien zeigen, stammen aus den Jahren 1923/24.
Sie sind erstmals seit 1933 wieder vereint, als Kirchner sie gemeinsam in seiner Ausstellung in der Berner Kunsthalle präsentierte.
Das Kunstmuseum erwarb «Alpsonntag. Szene am Brunnen» damals aus jener Ausstellung, es ist das einzige Kirchner-Gemälde, das zu Lebzeiten des Künstlers von einem Schweizer Museum gekauft wurde.
Zusammen bilden sie das Herzstück von «Kirchner x Kirchner», einer Ausstellung, welche die Schau von 1933 neu aufgreift und laut Museumsdirektorin Nina Zimmer zu den besucherstärksten Ausstellungen des Museums der vergangenen Jahre werden dürfte.
Für Kirchner war die Ausstellung von 1933 eine willkommene Gelegenheit, sich in der Schweiz einen Namen zu machen, zu einer Zeit, als seine Kunst, von den Nazis als «entartet» verschmäht, in Deutschland zunehmend in Ungnade fiel.
Kirchner, ein Meister der Selbstvermarktung lange vor Instagram, Influencerinnen und Influencern, kuratierte nicht nur die Ausstellung, sondern entwarf auch das Plakat und legte Details für den Katalog fest, darunter die Papiersorte und die Schriftarten.
Er verfasste sogar kurze Texte zu einzelnen Kunstwerken für den Katalog. «Er war Ausdruck seines künstlerischen Selbstbildes und ein Akt der Selbstbehauptung, der Distanz und Kontrolle kunstvoll miteinander verband», schreibt die Kuratorin Nadine Franci im Katalog zur aktuellen Ausstellung im Kunstmuseum.
Die «Brücke»
Kirchner besuchte Davos erstmals im Januar 1917, kehrte aber wegen der Kälte in den Bergen nach Berlin zurück. Dennoch muss ihn diese kurze Reise dazu bewegt haben, für längere Zeit zurückzukommen: Im Mai desselben Jahres zog er, begleitet von seiner Pflegefachfrau, nach Davos.
Er war seelisch und körperlich am Ende. Aufgrund einer psychischen Erkrankung war Kirchner 1915 im Ersten Weltkrieg aus dem Dienst entlassen worden und hatte einen Grossteil des folgenden Jahres in Berliner Sanatorien verbracht. Er war alkohol-, schlaftabletten- und morphiumsüchtig und litt unter Blackouts und Lähmungen.
In Deutschland hatte der Künstler bereits grosse Anerkennung erlangt. Zusammen mit Erich Heckel, Karl Schmidt-Rottluff und Fritz Bleyl hatte Kirchner 1905 in einer leerstehenden Schuhmacherwerkstatt in Dresden die Künstlergruppe «Brücke» gegründet.
Ihr revolutionäres Manifest lautete: «Als Jugend, die die Zukunft trägt, wollen wir uns Arm- und Lebensfreiheit verschaffen gegenüber den wohlangesessenen, älteren Kräften. Jeder gehört zu uns, der unmittelbar und unverfälscht das wiedergibt, was ihn zum Schaffen drängt.»
Die Gemälde der «Brücke» spiegeln ihren unkonventionellen Lebensstil wider und zeigen oft junge Frauen beim Nacktbaden in den Seen um Dresden.
Kirchners «Zwei weibliche Akte im Hochformat» und «Sich kämmender Akt», beide im Kunstmuseum Bern ausgestellt, stammen aus der Zeit um die Auflösung der Gruppe im Jahr 1913.
Kirchner liess sich nach dem Umzug der Gruppe nach Berlin im Jahr 1911 auch von der Energie der rasant wachsenden Metropole inspirieren und schuf die erotisch aufgeladenen Strassenszenen, für die er bis heute wohl am bekanntesten ist.
Oftmals zeigen sie die kantigen Figuren extravagant gekleideter Prostituierter und ihrer in Anzügen und Hüten gekleideten Freier.
Eines dieser Gemälde, «Strasse mit roter Cocotte» (1914), ist eine Leihgabe des Thyssen-Bornemisza-Nationalmuseums in Madrid an das Kunstmuseum Bern.
Der Zauberberg
Nachdem er sich in Davos niedergelassen hatte, kam Kirchner etwas zur Ruhe. Seine Lebensgefährtin Erna Schilling folgte ihm 1921.
Inspiriert von den Bergen und den bäuerlichen Gemeinden, begann er, farbenprächtige Landschaften im Teppichstil zu malen, wie etwa «Sertigtal im Herbst» (1925/26), das in Bern als Leihgabe des Kirchner-Museums in Davos zu sehen ist.
In «Sitzende Dame» (1926) sitzt Schilling im Schneidersitz in einem rot-blauen Kleid auf einem Balkon vor einer Kulisse aus Bergen und Bäumen.
Friedliche Szenen von Menschen, welche die Natur geniessen, wie etwa «Vor Sonnenaufgang» (1925/1926), evozieren eine besinnliche Ruhe, die in seinem Frühwerk selten zu finden ist.
Einige von Kirchners späteren Gemälden tendieren zur abstrakten Kunst: «Drehende Tänzerin» (1931/1932) vermittelt die Unschärfe der Bewegung mit einer zweimündigen, vierarmigen Tanzfigur.
Kirchner war stets besorgt, wie seine Werke aufgenommen werden würden, und schrieb sogar unter dem Pseudonym Louis de Marsalle Rezensionen zu seinen Ausstellungen. Gibt es schliesslich einen besseren Weg, um eine aufschlussreiche und intelligente Kritik zu gewährleisten?
Als angeblich in Marokko lebender französischer Kritiker bot de Marsalle Kirchner die Möglichkeit, seine Stiländerungen zu erklären und seinen Texten gleichzeitig Distanz und Autorität zu verleihen.
De Marsalles Essay im Katalog von 1933, sein sechster Text über Kirchners Werk, sollte auch sein letzter sein: Kirchner liess ihn kurzerhand sterben, indem er ein Kreuz neben seinen Namen setzte.
Die Ruhe, die Kurchner in der Schweiz gefunden hatte, sollte nicht von Dauer sein. Er blieb stark vom schrumpfenden deutschen Markt abhängig, und 1933 brachte für ihn beunruhigende Nachrichten.
Im Januar, dem Monat, in dem Adolf Hitler Reichskanzler wurde, schrieb ein deutsches Museum an die Kunsthalle, dass es ein angefragtes Werk aufgrund eines Leihverbots nicht ausleihen könne – ein Vorbote der bevorstehenden Einschränkungen.
Im Mai desselben Jahres schrieb Kirchner aus Davos an den Frankfurter Sammler Carl Hagemann: «Ich bin ein wenig müde und traurig über die Verhältnisse drüben. Es liegt Krieg in der Luft. In den Museen wird jetzt die mühsam errungene Kultur der letzten 20 Jahre vernichtet. Dabei hatte ich seinerzeit doch die Brücke extra deshalb gegründet um deutsche echte Kunst, die in Deutschland gewachsen war zu pflegen. Das soll jetzt undeutsch sein. Ach Gott. Mir geht das doch ein wenig ans Herz.»
Er hatte den Auftrag erhalten, Fresken für das Folkwang Museum in Essen zu malen, doch 1934, ein Jahr nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten, wurde der Direktor des Museums entlassen, und die Fresken wurden nie realisiert. 1936 begann Kirchner erneut Morphium gegen Darmbeschwerden einzunehmen.
Im Jahr 1937 wurden etwa 700 seiner Werke aus deutschen Museen entfernt, und ab Juli desselben Jahres waren über 30 davon in München in der berüchtigten Ausstellung «Entartete Kunst» zu sehen.
Hitlers Propagandaminister Joseph Goebbels hatte die Ausstellung initiiert, um die moderne Kunst zu verunglimpfen und zu diffamieren. Kirchners psychischer Zustand verschlechterte sich.
Er erschoss sich 1938 in der Nähe seines Hauses und ist auf dem Waldfriedhof in Davos begraben. Er wurde 58 Jahre alt.
Anerkennung in der Schweiz
Kirchner kämpfte lange um Anerkennung in der Schweiz. «Die Menschen sind an französische Künstler gewöhnt und schockiert über meine Formen und Farben», schrieb er.
Doch es ist unbestreitbar, dass er dort Eindruck hinterliess. Das Kunstmuseum zeigt parallel die Ausstellung «Panorama Schweiz. Von Caspar Wolf bis Ferdinand Hodler», die beleuchtet, wie Schweizer Künstler die Alpenwelt über drei Jahrhunderte hinweg dargestellt haben.
Ein Raum ist einer Generation junger Expressionisten aus Basel gewidmet, für die Kirchner einen wichtigen Einfluss darstellte; darunter Albert Müller, dessen intensives Selbstporträt in Violett, Flieder, Grün und Blau stark von Kirchners Farbpalette beeinflusst ist.
Kirchner mag in seinem Bergrefugium ein «echter deutscher Künstler» geblieben sein, doch er hat in der Schweiz Spuren hinterlassen. Die internationale Anerkennung seines dort entstandenen Werkes wächst stetig – eine Entwicklung, zu der die Ausstellung des Kunstmuseums sicherlich viel beitragen wird.
Kirchner x Kirchner ist noch bis zum 11. Januar 2026 im Kunstmuseum Bern zu sehen.
Die Ausstellung Panorama Schweiz. Von Caspar Wolf bis Ferdinand Hodler läuft noch bis zum 5. Juli 2026.
Editiert von Virginie Mangin/ts, Übertragung aus dem Englischen mithilfe von KI-Tools: Petra Krimphove/raf
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