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«Den ökologischen Wandel erreichen wir nicht mit Gerichtsurteilen»

Richterinnen und Richter vor Gericht
In einem bahnbrechenden Urteil verpflichtete der Oberste Gerichtshof der Niederlande 2019 die niederländische Regierung zur Reduzierung der Treibhausgasemissionen. Keystone / Brank de Lang

Immer mehr Menschen versuchen mit Klagen vor Gericht, Länder und Unternehmen zu mehr Klimaschutz zu bewegen. Doch welche konkreten Ergebnisse hat diese Strategie? Swissinfo hat mit einer der international führenden Expertinnen für Umweltrecht und Klimaklagen gesprochen.

Die Juristin Christina VoigtExterner Link ist Professorin für Rechtswissenschaften an der Universität Oslo in Norwegen. Sie ist auf internationales Umweltrecht spezialisiert; mit einem Schwerpunkt auf rechtlichen Fragen im Zusammenhang mit dem Klimawandel.

Vor zehn Jahren war sie an der Ausarbeitung des Pariser Klimaabkommens beteiligt. Dieses Jahr wurde ihr der Wissenschaftspreis Hans Sigrist der Universität Bern verliehenExterner Link.

Swissinfo: In den letzten Jahren hat die Zahl der Klimaklagen gegen Regierungen und Unternehmen deutlich zugenommen. Wie erklärt sich diese Zunahme?

Christina Voigt: Es gibt mehrere Gründe. Ein Grund ist sicherlich der Erfolg der Klimaklage, die 2019 von der Nichtregierungs-Organisation Urgenda gegen die niederländische RegierungExterner Link auch in letzter Instanz gewonnen wurde.

Sie hat gezeigt, dass es über einen gerichtlichen Weg möglich ist, ein Land zu ehrgeizigeren Klimazielen zu bewegen. In diesem Fall mussten die Niederlande ihre Treibhausgasemissionen deutlicher reduzieren als geplant. Der Fall hat andere Menschen weltweit dazu motiviert, ebenfalls Klimaklagen einzureichen.

Ein weiterer Faktor ist das Pariser Abkommen von 2015. Es hat eine klare Richtung beziehungsweise Zielsetzung vorgegeben und so die Beurteilung ermöglicht, ob die Politik eines Landes beziehungsweise ihrer Regierung mit diesen Zielen im Einklang steht.

Darüber hinaus haben viele Organisationen wie Client Earth, WWF und Greenpeace erkannt, dass neben Kampagnen auch Klimaklagen Teil ihrer Strategie zum Klimaschutz sein können.

Und schliesslich gibt es noch einen wissenschaftlichen Aspekt: Die Daten zum Klimawandel werden immer genauer, sodass sich immer besser quantifizieren lässt, welche Massnahmen zur Begrenzung der Erderwärmung erforderlich sind.

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Wie können Gerichtsentscheide Länder dazu bewegen, eine ehrgeizigere Klimapolitik zu betreiben?

Gerichtsurteile können unterschiedliche Auswirkungen haben. In einigen Fällen ordnen Gerichte sehr konkrete Massnahmen an: So hat beispielsweise der Oberste Gerichtshof der Niederlande die Regierung in Folge der erwähnten Klage von Urgenda zu einer stärkeren Reduzierung der Emissionen verpflichtet.

In anderen Fällen geben Richter:innen keine konkreten Massnahmen vor und überlassen es den jeweiligen Regierungen, ihre Gesetze einzuhalten oder zu überarbeiten.

Dies war beispielsweise 2021 in Deutschland der Fall, als das Bundesverfassungsgericht das Klimagesetz für teilweise verfassungswidrig erklärte. Die Regierung reagierte darauf, indem sie ehrgeizigere Ziele und konkrete Massnahmen einführte, um bis ins Jahr 2050 Klimaneutralität zu erreichen.

Die globalen Verpflichtungen zur Emissionsreduzierung reichen nicht aus, um die Ziele des Pariser Abkommens zu erreichenExterner Link. Welche Rolle können Gerichte spielen, um die Lücke zu füllen, welche die Politik hinterlässt?

Ihre Rolle ist begrenzt. Gerichte schaffen keine Gesetze, sie wenden sie an. Alles hängt vom bestehenden Rechtsrahmen ab.

Wenn beispielsweise ein Verfassungsartikel das Recht auf eine gesunde Umwelt garantiert, können Gerichte diese Bestimmung im Zusammenhang mit dem Klimawandel anwenden und das Land zum Handeln verpflichten.

Wo es klare Gesetze gibt, können Richterinnen und Richter eingreifen und Regierungen zur Rechenschaft ziehen. In Ländern ohne Klimagesetzgebung oder entsprechende Verfassungsbestimmungen ist der Handlungsspielraum der Gerichte jedoch sehr begrenzt.

Eine Frau mit Brille
Christina Voigt, 53, ist Professorin für Rechtswissenschaften an der Universität Oslo. Rune Hammerstad Fotorune.com

Sie haben als Verhandlungsführerin für Norwegen an internationalen Klimakonferenzen teilgenommen. Welchen Stellenwert beziehungsweise Einfluss haben Urteile oder Gutachten internationaler Gerichte bei diesen Verhandlungen?

Die Antwort ist einfach: Bislang keinen. Gerichte und Klimakonferenzen der Vereinten Nationen sind zwei getrennte Welten.

Was ausserhalb des UNO-Klimaregimes geschieht – das sehr umfangreich ist und nach seinen eigenen Gesetzen funktioniert – wird oft als wenig relevant angesehen.

Selbst wichtige Berichte, wie solche der Internationalen Energieagentur oder wissenschaftlicher Institute, fliessen nicht automatisch in die Diskussionen ein.

Es bedarf der Initiative eines Landes oder einer Gruppe von Ländern, die diese Berichte bewusst auf den Verhandlungstisch bringen.

2024 verurteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Schweiz, weil sie keine ausreichenden Massnahmen ergriffen hatte, um die am stärksten gefährdeten Personen wie alte Menschen vor den Auswirkungen des Klimawandels zu schützen. Dennoch blieb die nationale Klimapolitik im Wesentlichen unverändert. Verstärken Klimaklagen tatsächlich den Klimaschutz oder sind sie nur symbolischer Natur?

Das kommt darauf an. Ich würde sie nicht als symbolisch, sondern als strategisch bezeichnen. Klimaklagen werden angestrengt, um ein bestimmtes Problem zu lösen, aber sie zielen auch auf langfristige Auswirkungen ab, indem sie andere Regierungen und Akteure dazu bewegen, ihren Kurs zu ändern.

Im Fall der Schweiz würde ich nicht sagen, dass das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte keine Auswirkungen hatte. Die Schweiz hat begonnen, einige Gesetze zu überarbeiten, auch wenn der Prozess noch nicht abgeschlossen ist.

Das Ministerkomitee des Europarats hat diese Bemühungen anerkannt und weitere Massnahmen gefordert, um dem Urteil nachzukommen.

Was sind die grössten Herausforderungen bei der Umsetzung von Klimaurteilen?

Eine der grössten Schwierigkeiten betrifft die konkrete Möglichkeit zur Umsetzung des Urteils, die nicht immer gewährleistet ist. Hinzu kommen Fragen in Bezug auf den politischen Willen und wirtschaftliche Überlegungen.

Ein aussagekräftiges Beispiel ist das Urgenda-Urteil in den Niederlanden, das die Regierung dazu brachte, Kohle aus dem Energiemix zu streichen.

Zwei internationale Unternehmen, die in Kohle investiert hatten, reagierten darauf mit einer Schadenersatzforderung in Höhe von 3,5 Milliarden Dollar. Letztendlich zahlte die niederländische Regierung etwa 500 Millionen.

«Politische und wirtschaftliche Grenzen bei der Umsetzung eines Urteils sollten jedoch keine Entschuldigung für Untätigkeit sein»

Dies verdeutlicht einen oft übersehenen Aspekt, nämlich die wirtschaftlichen Folgen für Regierungen, die schnell auf ein Klimaurteil reagieren müssen.

Ausserdem kann es zu Widerstand im Parlament kommen oder, im Fall von Koalitionsregierungen, zu Streit zwischen den führenden Parteien.

Politische und wirtschaftliche Grenzen bei der Umsetzung eines Urteils sollten jedoch keine Entschuldigung für Untätigkeit sein. Wenn eine Regierung mit einem klaren Urteil konfrontiert ist, das sie zum Handeln verpflichtet, muss sie dieses umsetzen.

Eine Gruppe aus Indonesien hat den Schweizer Zementriesen Holcim verklagt und ihm vorgeworfen, für existenzbedrohende Klimaschäden mitverantwortlich zu sein. Was sind die grössten rechtlichen Herausforderungen beim Nachweis der Klimaverantwortung eines Unternehmens?

Kürzlich gab es einen Fall, in dem ein peruanischer Landwirt gegen ein deutsches Energieunternehmen klagte. Die deutschen Gerichte anerkannten den allgemeinen Grundsatz, wonach Unternehmen, die zum Klimawandel beitragen, zur Zahlung von Entschädigungen verpflichtet werden können.

Sie wiesen die Klage jedoch ab, da der Landwirt keine ausreichenden Beweise dafür vorlegte, dass sein Eigentum tatsächlich geschädigt wurde.

Wenn die Kläger:innen – im indonesischen Fall – Schäden an ihrer Existenzgrundlage, ihrem Eigentum oder ihrem Wohnraum nachweisen können, ist es heute möglich, Holcim eine seinem Beitrag zum Klimawandel angemessene Verantwortung zuzuweisen.

Die Gerichte gehen bereits diesen Weg. Und in Zukunft werden wir mehr Klagen dieser Art sehen, auch dank der Fortschritte in der Attributionsforschung (Zuordnungsforschung), die bestimmte Ereignisse – wie Dürren, Erdrutsche oder Überschwemmungen – mit dem Klimawandel und den Emissionen des Menschen in Verbindung bringt.

Allerdings ist es noch nicht möglich, den Kausalzusammenhang zwischen den Emissionen eines einzelnen Unternehmens und einem lokalen Ereignis genau zu bestimmen.

Warum vier Menschen von der indonesischen Insel Pulau Pari den Schweizer Zementriesen Holcim angezeigt haben:

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Welche Entwicklungen erwarten Sie in den nächsten Jahren? Werden Klimaklagen zu einem zentralen Instrument zur Beschleunigung der Dekarbonisierung werden?

Es wird wahrscheinlich zu einer Zunahme von Gerichtsverfahren kommen, wenn auch nicht in demselben exponentiellen Ausmass wie heute.

Ein Verfahren vor Gericht zu bringen, erfordert Zeit und Ressourcen. Realistischer ist es, von einer verstärkten Umsetzung bereits ergangener Urteile auszugehen, mit einem stärkeren Fokus auf deren Anwendung.

Gerichtliche Entscheide werden ein wichtiges Element bleiben, aber wir können uns nicht allein auf die Gerichte verlassen, um den ökologischen Wandel zu beschleunigen.

Es sind koordinierte Massnahmen in vielen Bereichen erforderlich: Wirtschaft, Bildung, Medien, Kultur. Alle müssen in die gleiche Richtung gehen. Auch Investitionen und internationaler Handel müssen Teil des Prozesses sein.

Heute sehen wir Anzeichen für einen Wandel: Die Emissionen an Treibhausgasen sind rückläufig, wenn auch noch zu langsam.

Der eigentliche Motor des Wandels wird politischer und wirtschaftlicher Natur sein: Erneuerbare Energien müssen zu einer Geschäftsmöglichkeit und die Reduzierung von Emissionen zu einem wirtschaftlichen Vorteil werden. Dies wird den ökologischen Wandel mehr vorantreiben als Gerichtsurteile.

Editiert von Veronica De Vore, Übertragung aus dem Italienischen mithilfe von Deepl: Gerhard Lob/raf

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