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Bergsturz von Blatten wird zum Fall für die Forschung

Professor Johan Gaume von der ETH Zürich demonstriert sein 3D-Simulationstool, mit dem er die 10 Millionen Kubikmeter große Gesteinseisfreisetzung in Blatten Anfang des Jahres genau modelliert hat.
Professor Johan Gaume von der ETH Zürich demonstriert sein 3D-Simulationstool, mit dem er die zehn Millionen Kubikmeter grosse Gesteinseisfreisetzung in Blatten Anfang des Jahres genau modelliert hat. Michael Buholzer / Keystone

Der Abbruch des Birchgletschers hat im Mai das Walliser Dorf Blatten ausgelöscht. Mit beispiellosem Aufwand versucht die Wissenschaftswelt seither zu erklären, wie eine ganze Bergflanke am Kleinen Nesthorn kollabieren konnte – und was als Nächstes droht.

Der Abbruch des Birchgletschers hat im Mai das Schweizer Bergdorf Blatten ausgelöscht. Mit beispiellosem Aufwand versucht die Wissenschaftswelt seither zu erklären, wie eine ganze Bergflanke am Kleinen Nesthorn kollabieren konnte – und was als Nächstes droht.

Wenn man das Lötschental hinauffährt, folgt auf die idyllische Ruhe der sanftgrünen Weiden und orangegelben Lärchenwälder jäh eine dunkle, klaffende Wunde: ein gewaltiges Schuttfeld, wo einst Blatten war.

Am 28. Mai kollabierte der Birch-Gletscher oberhalb von Blatten unter dem enormen Gewicht der Gesteinsmassen, die vom Kleinen Nesthorns abgebrochen waren. In nur 40 Sekunden stürzten 9 Mio. Tonnen Fels, Schutt, Eis und Geröll mit einer Geschwindigkeit von 200 km/h den Hang hinunter und begruben das Dorf unter sich.

Gestein bleibt in Bewegung

Von den 300 Einwohner:innen konnten alle rechtzeitig evakuiert werden, mit einer Ausnahme: Ein 64-jähriger Schäfer galt zuerst als vermisst und wurde später tot geborgen.

Heute ist das Gemeindegebiet von Blatten aufgrund der anhaltenden Gefahrensituation grösstenteils gesperrtExterner Link. Das Gestein am Kleinen Nesthorn ist weiterhin in Bewegung – im Sommer bis zu 10 cm pro Tag –, wobei die tieferen Wintertemperaturen das Kriechen verlangsamt haben.

Zu einem weiteren, ähnlich grossen Felssturz kann es nicht mehr kommen, denn der Birchgletscher existiert grösstenteils nicht mehr. Trotzdem bleibt die Gefahr gross.

Schuttkegel von 100 Metern Höhe

Guillaume Bulle-Favre, Direktor der Dienstelle Naturgefahren des Kantons WallisExterner Link, beschreibt die Situation gegenüber Swissinfo wie folgt: «Der verbleibende Hängegletscher könnte aufbrechen und eine Eislawine auslösen, auch Murgänge aus dem Couloir oder ein neuer Erdrutsch aus einem instabilen Teil des Kleinen Nesthorns sind möglich und könnten den Talboden erreichen.»

Die grössten Risiken sind der riesige Schuttkegel, der an einigen Stellen über 100 Meter hoch ist, und durch eine neuerlichen Aufstauung der Lonza die mögliche Bildung eines neuen Sees.

Blick auf den Felsschutt, der sich am 23. Mai 2025 auf dem Birchgletscher angesammelt hatte, bevor er fünf Tage später einstürzte.
Blick auf den Felsschutt, der sich am 23. Mai 2025 auf dem Birchgletscher angesammelt hatte, bevor er fünf Tage später einstürzte. Keystone / Jean-Christophe Bott

Blatten stand im Mittelpunkt einer internationalen ErdrutschkonferenzExterner Link, die vergangenen Monat in Lausanne stattfand. Über 60 Expert:innen berieten darüber, wie es zu diesem Ereignis kommen konnte – und wie man das nächste vorhersagen kann.

Insbesondere in Europa befassen sich zahlreiche Fachleute intensiv mit dem Fall Blatten und arbeiten dabei kollegial zusammen, wie Christophe Lambiel, Professor an der Fakultät für Geowissenschaften und Umwelt der Universität Lausanne, erklärt:Externer Link «Wir wollen alle verstehen, was passiert ist, aber nicht unbedingt die Ersten sein.»

Anhand von SimulationenExterner Link und seismischen AnalysenExterner Link untersuchen verschiedene Forschungsgruppen das beispiellose Ereignis. Im Zentrum der Forschung steht dabei die Dynamik und die wachsende Gefahr von sich gegenseitig verstärkenden ExtremereignissenExterner Link beim Auftauen des Permafrostbodens und bei der Destabilisierung der Gletscher.

Sich gegenseitig verstärkende Extremereignisse

Nach mittlerweile sechs Monaten haben sich bereits einige Muster herauskristallisiert. Bei den drei grössten Erdrutschen in den Alpen in den letzten 20 Jahren – Piz Cengalo (2017), Piz Scerscen (2024) und jetzt Blatten (2025) – kam es jeweils zu Gesteinsabbrüchen auf die Gletscher, die sich in massive Gerölllawinen und Murgänge verwandelten.

«Für eine dicht besiedelte Region wie die europäischen Alpen ist das ein grosses Problem. Das Schadenpotenzial ist enorm, da Sedimente und Eis sehr weit talabwärts transportiert werden können. Durch den Klimawandel, das Auftauen des Permafrosts und den Rückzug der Gletscher in Steilhängen könnten solche Situationen in Zukunft häufiger auftreten», so Lambiel gegenüber Swissinfo.

Die Rolle des Klimawandels

Die zentrale Frage, ob der Bergsturz von Blatten auf den Klimawandel zurückzuführen ist, bleibt weiter ungeklärt. Für einige Fachleute liegt der Zusammenhang auf der Hand. Wissenschaftler Christian Huggel von der Universität Zürich glaubt, dass der Klimawandel in Blatten eine Schlüsselrolle gespielt hat.

«Die Geologie, insbesondere die Schichtung und Zusammensetzung des Gesteins, ist der entscheidende Faktor für ein solches Ereignis», erklärte er im September anlässlich einer Konferenz im österreichischen InnsbruckExterner Link. Huggel schätzt, dass es in Blatten ohne die Klimaerwärmung – falls überhaupt – erst Jahrhunderte später zu einem Felssturz gekommen wäre.

Andere äussern sich vorsichtiger. Ein FactsheetExterner Link der ETH Zürich vom Juli kommt zu dem Schluss, dass die Erwärmung «ziemlich wahrscheinlich» ein relevanter Faktor war. Die instabile Gesteinszone liege im Permafrost, der empfindlich auf steigende Temperaturen reagiert.

Die Schweiz hat sich seit der vorindustriellen Zeit um 2,9 °C und damit doppelt so stark erwärmt wie der globale Durchschnitt. Folgen: weitreichender Gletscherschwund, veränderte Schneefallmuster und auftauender Permafrost.

Mit der zunehmenden Schneeschmelze und der Erwärmung des Dauerfrostbodens werden Steinschläge häufiger. Für die Wissenschaft ist aber noch unklar, ob auch grössere Steinschläge häufiger werden. Verlässliche Aussagen über sehr grosse, seltene Ereignisse seien aufgrund von lückenhaften Daten schwierig.

Der Einsturz des Birchgletschers und der Erdrutsch, der das Dorf Blatten im Wallis vernichtet hat, sind in Bezug auf Umfang und Ausmaß der Schäden für die Schweizer Alpen beispiellos.
Der Einsturz des Birchgletschers, der das Dorf Blatten im Wallis vernichtet hat, ist in Bezug auf das Volumen und das Ausmaß der verursachten Schäden für die Schweizer Alpen beispiellos. Garrett Fisher / Keystone

«Die Prozesse hängen zusammen und können kaum isoliert betrachtet werden», findet der Glaziologe Daniel Farinotti von der ETH Zürich. Er hofft, im kommenden Jahr fundiertere Ergebnisse zur Katastrophe von Blatten präsentieren zu können.

«Sicher ist, dass die geologische Situation, das Klima, der Gletscher und der Permafrost [bei der Katastrophe von Blatten] eine Rolle gespielt haben.»

Auftauender Permafrost und brüchiges Gestein

Lambiel bezeichnet die Rolle des auftauenden Permafrosts am Kleinen Nesthorn als «offene Frage».

Der Birchgletscher war seit 2019 um etwa 50 m vorgerückt, vermutlich aufgrund wiederholter Abbrüche vom Kleinen Nesthorn. Die Gesteinsbrocken landeten auf der Oberfläche des Gletschers und drückten ihn Richtung Tal. Zudem waren Teile des Gletschers, durch die er an der Nordwand des Berges haftete, bereits abgeschmolzen.

«Der Rückzug dieses Gletschers in Verbindung mit dem auftauenden Permafrost löste zahlreiche Steinschläge aus, die den Gletscher bedeckten, ihn talwärts drückten und destabilisierten», erklärt Lambiel.

Video vom Abbruch des Birch-Gletschers oberhalb von Blatten am 28. Mai 2025.

Wurde die Instabilität durch rasches Auftauen des Permafrostbodens in jüngster Zeit beschleunigt?

«Wahrscheinlich ja», meint Lambiel, «aber definitiv lässt sich das noch nicht sagen. Wir brauchen mehr Daten, insbesondere Modelle zur Mechanik der Tiefeninstabilität.»

Neue Sensoren sollen nun weitere Daten zum thermischen Zustand des Permafrosts und seiner Entwicklung im Laufe der Zeit sowie zum mechanischen Verhalten des Gesteins liefern. Die Geologie des Berges bietet wenig Sicherheit: Gebrochene Gesteinsschichten aus Gneis und Amphibolit liegen neben Granit und bilden eine instabile Struktur.

Gemäss Forscher:innen der ETH Zürich ist dieser Gesteinsmix «absturzgefährdet», da der Hang durch die Gletschererosion über Jahrtausende hinweg steiler geworden ist und durch den Rückgang der Schnee- und Firndecke immer mehr freigelegt wird.

Zudem habe sich der Dauerfrostboden auch am Kleinen Nesthorn in den letzten Jahrzehnten erwärmt. Denkbar ist, dass der Eisverlust und die erhöhte Wasserinfiltration zu höherem Druck und zusätzlicher Belastung im Hang geführt haben, was wiederum das Abrutschen des Hangs beschleunigt haben könnte.

Modellierung für die Gefahrenplanung

Die intensiven Forschungsaktivitäten zur Katastrophe von Blatten haben dazu beigetragen, die wissenschaftliche Modellierung weiterzuentwickeln. Ein an der ETH Zürich und dem WSL-Institut für Schnee- und Lawinenforschung (SLF) entwickeltes 3D-SimulationstoolExterner Link kann nun Verlauf, Höhe und Ausbreitung von Schnee-, Eis- und Felslawinen präzise vorhersagen. Bei der Prognose zur Ausbreitung des grossen Erdrutsches in Brienz im Kanton Graubünden 2023 hat das Tool seine hohe Genauigkeit unter Beweis gestellt.

Ein Luftbild zeigt das teilweise überflutete Dorf Blatten nach den jüngsten Schneefällen, fünf Monate nachdem ein Erdrutsch das Dorf zerstört hat, 28. Oktober 2025.
Eine Luftaufnahme vom 28. Oktober 2025 zeigt das teilweise überflutete Dorf Blatten nach den jüngsten Schneefällen, fünf Monate nachdem ein Erdrutsch das Dorf zerstört hatte. Michael Probst / Keystone / AP

Nur wenige Tage vor dem Ereignis in Blatten modellierten Forscher:innen damit einen Gletscherabbruch mit einem Volumen von 10 Mio. Kubikmetern. Die errechnete Ausbreitung der Sturzmasse von 1,2 km auf der Südwestseite des Tals und 700 m auf der Nordostseite stimmten mit dem tatsächlichen Katastrophenverlauf weitgehend überein.

Das Team arbeitet nun mit Kantonen und Ingenieurbüros zusammen, damit das SLF-Tool für die Gefahrenplanung in den Alpen eingesetzt werden kann.

«Wir führen aktive Gespräche mit dem Kanton Wallis, um diese neue Technologie für die 80 meistgefährdeten Standorte einzusetzen. Wir sind auch in der Region Kandersteg am Spitzen Stein präsent und führen Simulationen durch, um die potenzielle Ausbreitung eines katastrophalen Felssturzes und dessen mögliche Auswirkungen auf den Oeschinensee einzuschätzen», erklärt Johan Gaume, Professor für alpine Massenbewegungen an der ETH Zürich und am WSL, gegenüber Swissinfo.

Verbesserte Überwachung

Die Schweiz überwacht im Rahmen des nationalen Projekts GLAMOS rund 1400 Gletscher, deren Volumen seit 2015 um ein Viertel geschwundenExterner Link ist. 60 davon, die meisten davon im Wallis gelegen, gelten offiziell als «gefährlich». Der Birchgletscher wird seit 1993 überwacht.

Dank eines gut koordinierten Gefahrenmanagementsystems konnte die Bevölkerung von Blatten vor dem Bergsturz evakuiert werden. Das Netzwerk des Kantons umfasst Geolog:innen, 90 lokale Beobachter:innen, zahlreiche Überwachungsgeräte, Frühwarnsysteme und einen erprobten Evakuierungsplan.

Seit dem Gletschersturz wurden in Blatten neue Überwachungsinstrumente installiert. Um das verbleibende Eis und sein potenzielles Schmelzrisiko für die Bewohner flussabwärts zu bewerten, haben Wissenschaftler:innen der Universität Zürich den Schuttkegel mit LiDAR, hyperspektraler Bildgebung und Photogrammetrie gescanntExterner Link.

Bei der Konferenz in Lausanne wurde auf die «dringende Notwendigkeit» hingewiesen, die Überwachung und Modellierung von Hängen zu verbessern. Doch ein bergiges Land wie die Schweiz kann nicht jeden Gipfel überwachen – und die Systeme haben alle ihre Grenzen.

Lambiel räumt ein, dass grosse Katastrophen schwer vorherzusagen sind: «Dass das Kleine Nesthorn instabil war, wussten wir. Es bewegte sich seit zehn Jahren. Ein solcher Bergsturz kann aber auch an unbekannten Orten wie letztes Jahr am Piz Scerscen auftreten. Niemand wusste, dass die Lage dort instabil war.»

Gewisse Berge mit Felssturzgefahr seien identifiziert worden und würden regelmässig überwacht, andere seien jedoch unbekannt. 

«Wir müssen in Zukunft mit Überraschungen rechnen… Wo und wann, ist sehr schwer zu sagen.» 

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Editiert von Veronica De Vore/ts, übersetzt mit Hilfe von KI: Lorenz Mohler

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