Immer mehr junge Erwachsene erkranken an Darmkrebs – ist die Vorsorge in der Schweiz zu spät?
Da Fälle von Darmkrebs weltweit bei Erwachsenen unter 50 Jahren zunehmen, senken einige Länder das Mindestalter für Vorsorgeuntersuchungen. Die Forderungen nach einer entsprechenden Massnahme in der Schweiz werden immer lauter, doch Expert:innen warnen, dass dies möglicherweise nicht ausreicht.
Fast eine Million Menschen sterben weltweit jedes Jahr an Darmkrebs. Im Jahr 2020Externer Link war Darmkrebs laut Weltgesundheitsorganisation (WHO)Externer Link die zweithäufigste Krebsform weltweit, an der Menschen starben. In der SchweizExterner Link ist Darmkrebs mit rund 4500 Diagnosen und 1600 Todesfällen pro Jahr die dritthäufigste Krebsart bei Männern und Frauen.
Die Krankheit, auch bekannt als kolorektaler Krebs (CRC), betrifft vor allem ältere Erwachsene. In der Schweiz etwa entfielen zwischen 2016 und 2021 86% der CRC-DiagnosenExterner Link auf Menschen ab 55 Jahren. Doch während sich die Fälle in dieser Altersgruppe in den letzten Jahren stabilisiert haben oder gar zurückgegangen sind, steigen in der Schweiz und vielen anderen Ländern die Fälle mit frühem Ausbruch, also vor dem 50. Lebensjahr, deutlich an.
In den USAExterner Link stieg die Inzidenzrate bei Menschen unter 50 Jahren zwischen 2012 und 2021 um 2,4% pro Jahr. In KanadaExterner Link, AustralienExterner Link und NeuseelandExterner Link ist sie in den letzten 20 Jahren deutlich gestiegenExterner Link, während sie bei älteren Erwachsenen im Allgemeinen zurückgegangen oder stabil geblieben ist.
In der Schweiz hat sich die Inzidenzrate bei Männern im Alter von 25 bis 29 Jahren vervierfachtExterner Link: von 0,9 pro 100’000 Personen im Zeitraum 1992–1996 auf 3,7 im Zeitraum 2017–2021. Bei Männern im Alter von 30 bis 34 Jahren stieg sie von 1,6 auf 6,4. Ein ähnlicher Trend wurde bei Frauen beobachtet, allerdings war der Anstieg weniger dramatisch.
Auch in europäischen Ländern stieg die InzidenzExterner Link in der Altersgruppe der 20- bis 39-Jährigen von 1990 bis Mitte der 2010er-Jahre deutlich an, unter anderem in Frankreich, Belgien, Deutschland und Grossbritannien. Ein Trend, der sich seither fortgesetzt hatExterner Link.
Vorsorgeuntersuchungen können die Zahl der Todesfälle halbieren
Die Gründe für diesen Anstieg sind noch nicht vollständig geklärt. Einige Risikofaktoren – darunter Alkoholkonsum, Rauchen, Bewegungsmangel und eine Ernährung mit viel rotem oder verarbeitetem Fleisch und wenig Ballaststoffen – sind in den letzten Jahrzehnten häufiger geworden, aber Studien deuten darauf hin, dass sie den Anstieg nicht vollständig erklären können.
Da die Ursachen unklar sind, fehlt es auch an einer gezielten Präventionsstrategie. Dies hat Expert:innen dazu veranlasst, sich auf die Früherkennung zu konzentrieren:
Das Ziel ist es, die Krankheit zu erkennen, wenn sie noch leichter zu behandeln ist und die Überlebenschancen am höchsten sind. Einige Länder, darunter die USA und Österreich, haben das Mindestalter für Vorsorgeuntersuchungen bereits gesenkt.
In der Schweiz beginnt die Vorsorgeuntersuchung mit 50 Jahren. Sie hat zu einem deutlichen Rückgang der Todesfälle aufgrund von Darmkrebs geführt, laut Swiss Cancer ScreeningExterner Link, einer Organisation, die Vorsorgeprogramme überwacht und fördert.
Ohne Vorsorgeuntersuchung sterben etwa zwei von 100 Menschen im Land vor dem 80. Lebensjahr an Darmkrebs, mit Vorsorgeuntersuchung (entweder auf Überweisung eines Arztes oder durch Einladung zu einem Programm) sinkt diese Zahl auf einen von 100.
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Darmkrebs entsteht, wenn Zellen im Dickdarm oder Enddarm unkontrolliert wachsen. Oft beginnt dies mit kleinen, gutartigen Polypen, die erst nach Jahren bösartig werden können.
Es gibt zwei wichtige Vorsorgeuntersuchungen. Der Stuhltest (FBT) weist verstecktes Blut im Stuhl nach. Er ist kostengünstig, nicht invasiv und erfordert nur minimale Vorbereitungen seitens des Patient:innen. Allerdings können nicht blutende Polypen übersehen werden, weshalb der Test alle zwei Jahre wiederholt werden sollte. Wird Blut festgestellt, folgt eine Darmspiegelung.
Diese ist gründlicher, aber invasiv. Der Arzt untersucht mit einer dünnen, flexiblen Kamera den gesamten Dickdarm und kann präkanzeröse Polypen sofort während des Eingriffs entfernen. Sie ist kostspieliger und erfordert Vorbereitungen (wie Fasten und die Einnahme eines Abführmittels), gilt jedoch als Goldstandard. Darmspiegelungen werden in der Regel alle zehn Jahre wiederholt.
Wenn Krebs vorliegt, hängt die Behandlung davon ab, wie weit die Krankheit fortgeschritten ist. Fälle im Frühstadium werden in der Regel allein mit einer Operation oder einer Operation gefolgt von einer Chemotherapie behandelt, während fortgeschrittene Krebserkrankungen, die sich auf andere Organe ausgebreitet haben, eine Kombination aus Operation, Chemotherapie und Strahlentherapie erfordern können.
Geringe Teilnahmequoten an Vorsorgeuntersuchungen
Die Symptome von Darmkrebs – wie Veränderungen des Stuhlgangs, Bauchschmerzen oder Blut im Stuhl – sind in frühen Stadien oft nur schwach ausgeprägt oder gar nicht vorhanden. Das macht Vorsorgeuntersuchungen so wichtig.
«Aber», sagt Michael Scharl, Chefarzt der Klinik für Gastroenterologie und Hepatologie am Universitätsspital Zürich, «Vorsorgeprogramme sind nutzlos, wenn die Menschen sich nicht untersuchen lassen». In der Schweiz liegt die Teilnahmequote weiterhin deutlich unter den von den europäischen RichtlinienExterner Link empfohlenen 65%. Im Jahr 2012 lag sie bei etwa 40%Externer Link, und selbst nach 2013, als die Grundversicherung die Kosten für DarmkrebsvorsorgeuntersuchungenExterner Link für Menschen im Alter von 50 bis 69 Jahren übernahm, änderte sich diese Zahl kaum. Bis 2017, dem letzten verfügbaren Wert, war sie nur auf 48% gestiegenExterner Link.
Ungleiche Kosten
Die Kosten stellen ein erhebliches Hindernis für die Durchführung von Tests dar. Der Preis für eine Darmspiegelung liegt in der Schweiz zwischen 800 und 2500 Franken, während ein Stuhlbluttest etwa 50 Franken kostet.
Was Patient:innen tatsächlich bezahlen, variiert jedoch stark, je nach Versicherungsschutz und je nachdem, ob ihr Kanton ein organisiertes Vorsorgeprogramm anbietet. Studien haben bestätigtExterner Link, dass höhere Selbstbehalte und das Fehlen einer privaten Versicherung mit niedrigeren Vorsorgequoten korrelieren.
In Kantonen mit organisierten Programmen werden Darmspiegelungen und Stuhlbluttests fast vollständig übernommen, mit einer Zuzahlung von nur 10%. In anderen Kantonen wird der Test auf den jährlichen Selbstbehalt angerechnet, was bedeutet, dass die Patienten die gesamten Kosten aus eigener Tasche bezahlen müssen, es sei denn, sie haben ihren jährlichen Selbstbehalt erreicht, dann greift die Versicherung.
Diese Kostenunterschiede führen zu ungleichen Anreizen im ganzen Land, da die Teilnahme in Kantonen mit organisierten Programmen tendenziell höher istExterner Link. Um die Akzeptanz zu erhöhen, «wäre es ein wichtiger Anreiz, die Untersuchung für die empfohlene Altersgruppe komplett kostenlos zu machen», sagt Scharl.
Die Krankenpflege-Leistungsverordnung (KLV) ist das Schweizer Bundesgesetz, das festlegt, welche Gesundheitsleistungen von der Grundversicherung übernommen werden. Es umfasst einige Krebsvorsorgeuntersuchungen: Mammographie alle zwei Jahre für Frauen ab 50 Jahren, Gebärmutterhalskrebsvorsorge alle drei Jahre und Darmkrebsvorsorge zwischen 50 und 74 Jahren, entweder durch einen Stuhltest alle zwei Jahre oder eine Darmspiegelung alle zehn Jahre. Die Altersobergrenze für die Darmkrebsvorsorge wurde 2025 von 69 auf 74 Jahre angehoben.
Jeder Kanton entscheidet selbst, ob er ein eigenes Screening-Programm organisiert, bei dem in der Regel schriftliche Einladungen zur Teilnahme an berechtigte Einwohner:innen verschickt werden. In der Schweiz bieten 15 von 26 Kantonen ein organisiertes Darmkrebs-Screening an, drei weitere planen laut Swiss Cancer ScreeningExterner Link die Einführung eines solchen Programms. In den übrigen Kantonen erfolgt das Screening fallweise: Die Untersuchungen werden nicht auf der Grundlage systematischer Einladungen, sondern auf Empfehlung eines Arztes durchgeführt.
Expert:innen fordern mehr Bewusstsein
Neben den Kosten spielt auch die Risikowahrnehmung eine Rolle. Die Teilnahme an Vorsorgeuntersuchungen ist bei den unter 60-Jährigen geringer, was darauf hindeutet, dass Erwachsene im Alter von 50 bis 59 Jahren ihr Risiko möglicherweise als so gering einschätzen, dass sie auf Vorsorgeuntersuchungen verzichten.
Zwar steigt das Risiko mit zunehmendem Alter, doch zeigen UntersuchungenExterner Link, dass Vorsorgeuntersuchungen in dieser Altersgruppe die Chancen auf die Erkennung von Krebsvorstufen und Krebs im Frühstadium erheblich erhöhen.
Die Zeit der Politik naht, aber nur langsam
Neben einer stärkeren Beteiligung an Vorsorgeuntersuchungen muss die Schweiz laut einigen Expert:innen damit beginnen, diese Untersuchungen bereits ab einem Alter von 45 Jahren anzubieten, statt wie bisher erst ab 50.
Eine von Scharl am Universitätsspital Zürich durchgeführte StudieExterner Link analysierte rund 2800 Darmspiegelungen und stellte fest, dass die Erkennungsraten von Darmkrebs und präkanzerösen Polypen in der Altersgruppe der 45- bis 49-Jährigen sowohl bei Männern als auch bei Frauen ähnlich hoch waren wie bei den über 50-Jährigen. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass durch Vorsorgeuntersuchungen in einem früheren Alter ebenso viele Fälle entdeckt werden könnten wie durch Programme, die sich an ältere Altersgruppen richten.
Philippe Groux, ehemaliger Leiter der Nationalen Strategie gegen Krebs, merkt jedoch an, dass «die Politiker:innen in der Schweiz nicht sehr daran interessiert sind, Massnahmen zur Förderung von Präventions- und Vorsorgeprogrammen umzusetzen». Das Wissen über Vorsorgemöglichkeiten sei nach wie vor begrenzt, so Groux, und das nicht nur in Bezug auf Krebs.
Einige Länder haben Massnahmen ergriffen
Die US Preventive Services Task ForceExterner Link hat ihre Richtlinien im Jahr 2021 aktualisiert und empfiehlt nun, mit der Vorsorgeuntersuchung bereits im Alter von 45 statt 50 Jahren zu beginnen. Die Teilnahmequote bei den 45- bis 49-Jährigen stiegExterner Link von 21% im Jahr 2019 auf 34% 2023.
In den meisten europäischen Ländern beginnt die Vorsorgeuntersuchung nach wie vor erst mit 50 Jahren. In Österreich wurde das Einstiegsalter 2023 auf 45 Jahre gesenktExterner Link, aber die Untersuchung erfolgt nur auf Überweisung eines Arztes oder einer Ärztin, und der Zugang ist je nach Region und Institution nach wie vor ungleich verteilt.
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Krebsvorsorgeuntersuchungen retten Leben. Sie haben aber auch Nachteile, wie das Risiko von falsch-positiven Befunden, unnötigen Eingriffen und höheren Kosten für Patient:innen und Gesundheitssysteme. Überdiagnosen – die Entdeckung langsam wachsender Tumore, die sich möglicherweise nie zu einem voll ausgeprägten Krebs entwickeln – haben in vielen Ländern zu einer Zurückhaltung geführt, beispielsweise bei der Brustkrebsvorsorge für Frauen unter 50 Jahren.
Bei der Darmkrebsvorsorge sei das jedoch anders, insbesondere wenn es um eine Darmspiegelung geht, sagt Scharl. «Das ist der Goldstandard. Koloskopien sind sicher und liefern eine klare, definitive Antwort.»
30% der Darmkrebsfälle würden erst im Stadium IV entdeckt, so Scharl. Zu diesem Zeitpunkt sind die Überlebenschancen dramatisch gesunken – die Fünf-Jahres-Überlebensrate liegt bei nur 10 bis 15%. «Deshalb sollte die Vorsorgeuntersuchung durchgeführt werden, wenn Sie keine Symptome haben. Dann ist sie am wichtigsten – bevor der Krebs überhaupt auftritt.»
Editiert von Nerys Avery/vm/ts, Übertragung aus dem Englischen: Meret Michel/jg
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