Chance im Unglück
Der Jahres-Wechsel bedeutet Rotation auf dem Sessel des Schweizerischen Bundespräsidenten. Kaspar Villiger löst Moritz Leuenberger ab. Für Letzteren ein trauriger Tag?
Der urbane Intellektuelle liebt Ironie: «Dies ist ein trauriger Tag. Entschuldigung, aber ich bin mich gewohnt, jede Rede so zu beginnen. Zudem ist es ja wirklich auch traurig, das Präsidium abgeben zu müsse – für mich wenigstens.»
Bundespräsident Moritz Leuenberger war bei der Präsidialfeier des neuen Bundespräsidenten Kaspar Villiger in seinem Element. Er, dem Launenhaftigkeit vorgeworfen wird, lächelte schelmisch in die Kameras.
Das Jahr der Katastrophen
Bundesrat Leuenberger hat kein leichtes Präsidialjahr hinter sich. Der 11. September, der Amoklauf in Zug, das Grounding der Swissair, das Inferno im Gotthard und der Absturz einer Crossair-Maschine wiegen noch jetzt schwer auf seinen Schultern.
Doch Unglück biete auch die Chance, «jetzt erst recht zusammenzustehen», sagt er rückblickend. Man dürfe sich nicht lähmen lassen. Und von ihm, dem Bundespräsidenten, habe das Volk erwartet, dass er sich zu solchen Unglücken äussere. Es ging darum, das auszudrücken, was alle ausgedrückt haben möchten. «Es wirkt für viele Leute wie eine Befreiung: ‚Er hat das gesagt, was ich dachte‘.»
Die Damen und Damen und Herren und Herren
Und so gab er allen eine Stimme. Dem Automobil am Salon in Genf: «Mesdames, Messieurs, chères voitures.» Den Homosexuellen am Christophers Street Day in Zürich: «Sehr verehrte Damen und Damen, sehr verehrte Herren und Herren.»
Und er schwang sich mit einer Rede am Eidgenössischen Schwingfest in die Herzen der bodenständigen Schweizerinnen und Schweizer. Per SMS gratulierte er später dem Schwingerkönig, per SMS gibt er zuweilen seinem Stab auch Anweisungen.
Der Launige, der Schauspieler werden wollte
Verschmitzt schüchtern kann Bundesrat Moritz Leuenberger in die Journalistenrunde blicken, ungehalten grob auf eine nichtgenehme Frage (k)eine Antwort geben. Die Öffentlichkeit behagt ihm oft nicht. Im Fernsehstudio wagte er trotzdem einen Auftritt in der Soap-Serie «Lüthi und Blanc» – schliesslich wollte der Pfarrerssohn mal Schauspieler werden.
«Dass ich meine Launen hab, kein Strahlemann bin, dass ich meine Auf und Ab habe – das ist so», gab er in einem Interview mit dem Schweizer Fernsehen zu. Nachfolger Villiger gesteht ihm zu, kein Magistrat im herkömmlichen Sinn zu sein. Er sei sensibel, manchmal verletzlich, trotzdem widerstandsfähig, bisweilen von hoher Raffinesse.
Bundesrat und -präsident Leuenberger kann auch ärgern. Manch Urner und Urnerin kriegt einen roten Kopf, ist von der NEAT-Linienführung die Rede, vom Stau auf der A2. Andere ärgern sich grün und blau ob seiner Sturheit in Sachen keine zweite Gotthard-Röhre. Seine Haltung bei der Schliessung der zwei Privatsender TV3 und Tele 24 hat ihm mehr Feinde als Freunde beschert.
Der Ästhet und der mächtige Bundesrat
Dem Ästheten Leuenberger (begonnen beim persönlichen Büro, über die Cafeteria in seinem Departement hin zu gepflegten Anzügen und Opernbesuchen) fiel im Präsidialjahr das Bundesratszimmer «zum Opfer». Der Umbau brachte die fünf Bundesräte und zwei Bundesrätinnen nicht nur physisch näher – auch die Kollegialität habe gewonnen. Die Stimmung im Bundesrat sei ausgezeichnet, so Leuenberger.
Doch der Bundespräsident ist immer auch Departementschef: Umwelt-, Verkehrs-, Energie- und Medienminister in seinem Fall. Die Doppelbelastung ist gross – eine Entlastung wäre eine Erleichterung. Dafür scheint die Regierungsreform geeignet. Auch einen Stab für den Bundespräsidenten wünscht sich der Scheidende. Damit der auf diplomatischem Parkett nicht strauchelt.
Die Ironie entwaffnet
Der vielbeschäftigte Bundesrat wird es verschmerzen, wenn ihn am 1. Januar 2002 der Finanzminister die Würde des Präsidiums abnimmt. «Kaspar Villiger, du wirst jetzt all die Ansprachen an den heiligen Eckdaten schweizerischer Politik bestreiten: die Neujahrsansprache am 1. Januar, die patriotische Ansprache am 1. August, die rote Ansprache am 1. Mai und die Ansprache zu den schwarzen Zahlen in der Rechnung, die kommt wohl am 1. April…», sprach Moritz Leuenberger zu Kollege Villiger an dessen Feier.
Und er gab ihm grünes Licht für das Jahr 2002: «Ich habe meinerseits die möglichen Katastrophen des nächsten Jahrtausends auf mein Präsidialjahr konzentriert, so dass es dir eigentlich gut gehen sollte.»
Rebecca Vermot
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