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Wenn der Endwind über Einsiedeln fegt

Thomas Hürlimanns Einsiedler Welttheater, eine farbige Choreographie in den Abgrund. Keystone

Einsiedeln, der Wallfahrtsort in der Zentralschweiz, ist ein europäischer Anziehungspunkt für Pilger, Pendler, Proleten – und Theaterleute.

Alle sieben Jahre spielt das Dorf Welttheater, Weltuntergang. Die neueste Spielvorlage schrieb der Schweizer Dramatiker Thomas Hürlimann.

Das Einsiedler Welttheater beginnt mit einem monumentalen Auftritt der mehr als 350 Spielleute. Sie wälzen sich unter dem feuerroten Rock der Welt geräuschvoll auf den weiten Platz vor der barocken Klosterkirche.

Der Autor des Welttheaters, Thomas Hürlimann, stützt sich beim apokalyptischen Spiel auf die Figuren und Kernaussagen des iberischen Autors Pedro Calderón (1600-1681): “Toda la vida es una entrada y una salida” (Das Leben ist ein einziger Auf- und Abgang).

Eine Handvoll Figuren – der König, die Schönheit, die Reiche, der Bauer, die Bettlerin, Pater Kluge und die Welt – gehen ihren Weg von der Geburt bis zum Tod. Die Hauptrolle im Einsiedler Welttheater von Thomas Hürlimann spielt aber der Endwind, der mächtig über der anbrechenden Endzeit bläst.

Das pralle Leben unter dem feuerroten Rock

Bei der Geburt unterm feuerroten Rock ist die Welt fröhlich und lebt aus der Hüfte und aus allen Poren. Sie ist ausgelassen und sinnlich. Der Klosterplatz, wo im Alltag andächtige Pilger um Gesundheit und um Gottes gute Werke flehen, tanzen, singen, johlen, jodeln, kreischen, jauchzen Bauer, Bürger, Pfaff, Huren und Soldaten, Kinder, Mütter, Hirten, Nonnen und Padres. Alle produzieren sich auf der grossen Bühne, bis der Ernst des Lebens über die Gesellschaft auf dem Klosterplatz hereinbricht.

Das Einsiedler Welttheater wird mit jeder Szene aktueller, bedrückend, finster, panisch und manisch. “Gott gab euch alles. Wie habt ihr Madensäcke, ihr Mistfinken die Gabe verdankt?”, lässt der Dramatiker Hürlimann den fundamentalistischen Pater Kluge fragen.

Im Banne der Düsternis

Das Welttheater auf dem Innerschweizer Pilgerplatz wird zum Ökogipfel und zum Antikriegsforum: “Wer hat die Luft aus der Luft genommen? Das Wasser aus dem Wasser? Wer hat dem blutigen Krieg seine Waffen geschmiedet? Wer hat am Glockenseil gerissen, so dass uns das letzte Stündlein schlägt. Wer hat das Land verödet, auf dass sich der Wind beschleunigt und rotes Gewölk den Horizont verfinstert?”

Das Welttheater nimmt seinen Lauf. Der Endwind pustet die kranke Gesellschaft revueartig in Massenszenen und mit grossen Einzelauftritten über den Platz, durchs Fegefeuer der Hölle zu. Jugendbanden verschmieren Wände, Chöre jammern und singen.

Die grossen Figuren des Stücks monologisieren und deklamieren ihre vertrackten Reime, bis die Abtei in Flammen aufgeht. Vor den Augen der entsetzten Zuschauer stürzen sich Menschen von den brennenden Klostertürmen in den sicheren Tod. Ein Schaudern geht durch die Ränge.

Schnaufen, Fressen, Saufen

Im Publikum steigen Bilder der Terrorattacken in New York (9/11) und von der Todeswalze des Tsunami in Fernost auf. Pater Kluge setzt zum Endzeitplädoyer an: “Ihr schnauft, fresst, sauft. Ihr glaubt, wir kommen davon. Wenn ihr aufhört, die arme Welt zu plagen, dann rückt der Zeiger, auf dem ihr reitet, noch eine Ziffer vor.”

Autor Thomas Hürlimann und der Regisseur Volker Hesse führen das Welttheater keinem versöhnlichen Ende zu. Es kommt zur Apokalypse. Es siegt der Endwind, die Katastrophe.

Rutschbahn zur Hölle

Der musikalische Leiter Jürg Kienberger, der Choreograph Joachim Siska und die Raumgestalterin Marina Hellmann treiben die 350 Laienschauspieler in ihren üppigen Kostümen und grotesken Masken ins grosse Verrecken.

“Theater bleibt Theater”, sagt Dramatiker Thomas Hürlimann gegenüber swissinfo. Ihn lässt die Höllenfahrt auf dem Klosterplatz von Einsiedeln nicht in Pessimismus versinken. Ganz im Gegenteil: “Toda la vida es una entrada y una salida. Wir sind endlich, können das Leben geniessen. Man muss nach diesem Stück nicht traurig ins Bett, sondern in die Gastwirtschaft gehen und dort einen guten Wein trinken”, erklärt der Autor.

Nur ein Leben

Das Pilgerdorf Einsiedeln inszeniert seit mehr als 80 Jahren immer wieder das Welttheater und manchmal den Untergang. Für Autor Thomas Hürlimann, der die Spielvorlage bereits für die Aufführung des Jahres 2000 geliefert hatte, ist das Thema jetzt erledigt: “Es ist uns gelungen, eine Tradition fortzusetzen und sie zu erneuern. Jetzt müssen Jüngere ans Werk. Vielleicht gehen sie wieder zur alten Vorlage zurück. Und da die ganze Welt Theater ist, sei das Spiel euch und uns vergeben.”

swissinfo, Erwin Dettling in Einsiedeln

Über 500 Personen aus Einsiedeln und Umgebung, Männer, Frauen, Kinder, sind an der Produktion auf oder hinter der Bühne beteiligt.

Die Vorstellungen dauern vom 22. Juni bis 8. September 2007.

In Calderóns Barock-Dichtung gehen sechs Figuren den Weg von der Geburt zum Tod: der König, die Schönheit, der Reichtum, der Bauer, die Weisheit, die Bettlerin (“Das Leben ist nur ein Auftritt, ein Abgang”).

Thomas Hürlimann versetzt Calderóns Figuren in die heutige Zeit, die von der Angst beherrscht ist, auch die Welt könnte endlich sein.

Einsiedeln ist ein theaterbegeisterter Ort. Erste Hinweise auf dramatische Aufführungen stammen aus dem 12. Jahrhundert. Im letzten Viertel des 17. Jahrhunderts begann die Tradition der Einsiedler Wallfahrtsspiele. Mit der Aufklärung endete die barocke Theaterzeit.

1924 besuchte der Rheinländer Peter Erkelenz den Klosterort Einsiedeln. Erkelenz, der künstlerische Leiter der Deutschen Calderón-Gesellschaft in Berlin, erkannte in der Barockfassade des Stiftkloster Einsiedeln die perfekte Szenerie für Calderóns Welttheater.

1924 wurde unter der Regie von Peter Erkelenz ein Spielbeschluss gefasst. Der Autor des Welttheaters, Pedro Calderón, lebte von 1600 bis 1681. Er schrieb über 400 Stücke, darunter 73 geistliche Festspiele – so genannte Autos Sacramentales.

Das “Grosse Welttheater” stammt aus dem Jahre 1635. In Einsiedeln wurde das Welttheater in unterschiedlichsten Fassungen und Adaptation aufgeführt. In den neunziger Jahren besannen sich die Theaterfachleute darauf, dass die Tradition des Spiels nur durch Erneuerung fortgeführt werden kann.

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